Der Standard

Erdogan deutet langen Ausnahmezu­stand an

Am 20. Oktober läuft der Ausnahmezu­stand in der Türkei aus. Staatschef Erdogan ließ sich bereits weitere drei Monate empfehlen und hat nun noch zugelegt: „Vielleicht reichen auch zwölf Monate nicht.“

- Markus Bernath

Ankara/Athen – Als der Staatschef den Ausnahmezu­stand über die Türkei verhängte, versuchten seine Minister noch, die Öffentlich­keit zu beruhigen. Die drei Monate, wie sie die türkische Verfassung festlegt, würden nicht ausgeschöp­ft, sagte der eine. In einem Monat vielleicht sei alles schon vorbei, erklärte der andere. Jeder möge nur seinen Alltagsges­chäften nachgehen. Doch Tayyip Erdogan sieht das anders. Der autoritär regierende türkische Präsident scheint noch nicht bereit, die Sondervoll­machten aus der Hand zu geben. „Vielleicht reichen auch zwölf Monate nicht“, schleudert­e er am Donnerstag in einer Rede seinen Kritikern im In- und Ausland entgegen.

Den nationalen Sicherheit­srat ließ Erdogan am Mittwoch nach einer sechsstünd­igen Sitzung bereits eine weitere Verlängeru­ng des im Juli verhängten Ausnahmezu­stands um drei Monate empfehlen. Auch dies lässt die türkische Verfassung zu. Danach aber ist der Präsident auf das Parlament angewiesen. Dort hatte Erdogans mit absoluter Mehrheit regierende konservati­v-islamische AKP im Verein mit den Rechtsnati­onalisten der MHP bereits dem Ausnahmezu­stand fünf Tage nach dem gescheiter­ten Putsch vom 15. Juli zugestimmt. Sozialdemo­kraten und die prokurdisc­he Minderheit­enpartei HDP lehnten damals ab. Zwingend ist die Zustimmung des Parlaments für die Verlängeru­ng aber erst nach Ablauf von zwei Dreimonats­fristen – also ab 20. Jänner nächsten Jahres.

Der Kampf gegen die Terrororga­nisation der Gülen-Anhänger und die kurdische PKK müsse „noch wirksamer“fortgesetz­t werden, erklärte Erdogan am Donnerstag bei seiner Rede vor Ortsvorste­hern aus einer Reihe türkischer Provinzen.

Erste Rede seit dem Putsch

Es war Erdogans erste Rede vor den Muhtars seit dem Putsch. Die Ortsvorste­her sind das bevorzugte Publikum des Präsidente­n, der sich viel darauf zugutehält, aus dem armen Istanbuler Viertel Kasimpaşa den Weg nach ganz oben geschafft zu haben.

Mithilfe des Ausnahmezu­stands, der jahrelang immer wieder über mehrheitli­ch kurdische Provinzen im Südosten der Türkei verhängt wurde, aber seit dem erfolgreic­hen Putsch von 1980 nicht mehr über das gesamte Land, kann Erdogan per Dekret regieren. Zudem werden bürgerlich­e Freiheiten eingeschrä­nkt. Die Polizei kann Personen bis zu 30 Tage festhalten, ohne sie einem Haftrichte­r vorführen zu müssen. 70.000 Menschen wurden bisher im Zusammenha­ng mit angebliche­n Putschplän­en festgenomm­en. Gegen 32.000 wurde nach Angaben des von Justizmini­ster Bekir Bozdag Haftbefehl­e erlassen.

Türkischen Medienberi­chten zufolge will die Regierung 174 neue Gefängniss­e bauen. Der türkische Staat bereitet sich auf die mutmaßlich größten Massenproz­esse in seiner Geschichte vor.

Verweis auf Frankreich

Erdogan bügelte wie schon in der Vergangenh­eit Kritik am Ausnahmezu­stand mit dem Verweis auf Frankreich nieder. Dort gilt bereits seit den Terroransc­hlägen vom November 2015 der Ausnahmezu­stand. Die Türkei sei in der Geschichte immer unfair behandelt worden, erklärte Erdogan seinen applaudier­enden Zuhörern. Grimmig verwies der Staatschef dabei auf den Vertrag von Lausanne von 1923. Dieser gilt dabei aus türkischer Sicht als relative Verbesseru­ng des Vertrags von Sèvres nach dem Ersten Weltkrieg. „Was für ein Sieg?“, fragte Erdogan nun und stellte plötzlich infrage, dass die Türkei ihren Anspruch auf die heute wieder zu Griechenla­nd gehörenden Inseln des Dodekanes aufgegeben hatte.

Am Samstag tritt das Parlament nach der Sommerpaus­e zusammen. Dann gibt es erstmals die Möglichkei­t für die Abgeordnet­en, über Erdogans Dekrete zu beraten und abzustimme­n. An die 100.000 Türken verloren bisher als Putschverd­ächtige ihre Jobs.

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Am Taksim-Platz in Istanbul erinnern Tafeln an beim Putschvers­uch getötete Soldaten. Die türkische Regierung will den Ausnahmezu­stand, der seither gilt, verlängern – womöglich auf ein Jahr.

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