Finale im Prozess um Grazer Amokfahrt
Am letzten Verhandlungstag im Prozess um den Amoklenker Alen R. stellt sich die Psychologin Anita Raiger gegen die Gerichtspsychiater: Sie hält Alen R. für zurechnungsfähig. Er habe die Amokfahrt geplant. „Es war ein Racheakt an der Gesellschaft“, sagt Ra
Am Donnerstag kam im achten Prozesstag um die Amokfahrt im Grazer Straflandesgericht zunächst Gutachterin Anita Raiger zu Wort. Ihr zufolge war Alen R. zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig, er sei „höchstgefährlich“und habe die Amokfahrt genau geplant. Staatsanwalt Rudolf Fauler appellierte an die Geschworenen, so zu entscheiden, dass sie auch in dreißig Jahren noch in den Spiegel schauen könnten. Die Geschworenen urteilen darüber, ob der Angeklagte zurechnungsfähig war oder nicht. Das Urteil war zu Redaktionsschluss noch nicht bekannt.
Graz – Ist Alen R. wirklich geistig so hochgradig krank, dass er für seine apokalyptische Fahrt mit seinem SUV durch die Grazer Fußgängerzone keine Verantwortung übernehmen kann? Weil er nicht wusste, was er tat, und unzurechnungsfähig war?
Nein, sagt die Psychologin und Gutachterin Anita Raiger, die Alen R. am letzten Verhandlungstag am Donnerstag ohne Umschweife als zurechnungsfähig definiert. Alen R. habe gewusst, was er tat. Er habe die Amokfahrt geplant und ausgeführt. Sie sei nicht der Meinung der Gerichtspsychiater, die in ihren Gutachten von einer „paranoiden Schizophrenie“sprachen und Alen R. als unzurechnungsfähig bezeichneten.
Anita Raiger hat Alen R. begutachtet, als dieser noch „nüchtern“war, also noch vor den Einweisungen in die psychiatrischen Abteilungen, wo ihm von den Psychiatern aufgrund der Erstdiagnose Schizophrenie hohe Dosen an Psychopharmaka verabreicht wurden.
Ihr gegenüber habe Alen R. ein ganz anderes Bild gezeigt als hier im Gerichtssaal, wo er durch die Medikamente sehr sediert wirke. „Er war unsicher, ängstlich, hatte Angst vor der Haft. Und was ihn am meisten belastet hat, war die Trennung von den Eltern. Er hatte zuvor keinen Tag ohne seine Eltern verbracht“, sagt Raiger. Sie habe in den Gesprächen mit ihm keinerlei psychotische Auffälligkeiten wahrgenommen. Er zeigte zwar psychopathologische „Störungen“, aber keineswegs eine ausgeprägte paranoide Schizophrenie.
„Lügenbereitschaft“
Alen R. habe eine „völlig gestörte Gefühlslage“und könne zum Beispiel nicht nachvollziehen, warum ihn seine Frau verlassen habe. Die schwere emotionale Störung zeige sich auch in der „hohen Lügenbereitschaft“.
Raiger sieht auch viele Diskrepanzen in den Aussagen Alen R.s: „Er sagte, er fühle sich von dunklen Männern verfolgt. Warum fährt er dann Kinder und Frauen nieder, wenn dunkle Typen die Verfolger sind?“
Sie sei nach intensiven Befragungen und Testungen sowie vergleichenden wissenschaftlichen Arbeiten über Amokläufer zum Schluss gekommen, dass es sich eindeutig um das Muster einer „Amokfahrt“handle.
Das Persönlichkeitsbild der Amokläufer weise stets ähnliche Züge auf: nicht empathisch, extreme Probleme mit dem Selbstwert, eine hohe Affinität zu Waffen, häufiger Alkohol- oder Drogenkonsum. Sie verbringen viel Zeit im Internet. Zudem zeichne sie ein großes Bedürfnis nach „Macht und Männlichkeit“aus, sagt die Psychologin. Der Tatort sei immer der öffentliche Raum, um optimale mediale Aufmerksamkeit zu finden.
Der psychologische Angelpunkt sei eine „hegemoniale Männlichkeit“: der Mann als Erzeuger, Er- nährer und Beschützer. Dieses Konzept sei aus Sicht Alen Rs. in seinem Leben sukzessive völlig zerstört worden. Zwei Frauen verlassen ihn, die zweite nimmt ihm sogar die Kinder weg, und er bekommt, nachdem seine Frau ins Frauenhaus geflüchtet ist, auch noch Betretungsverbot. Also sieht er auch seine Eltern nicht. Mit der Frau ist auch die Einkommensquelle, das Karenz- und Kindergeld, weg. Das alles kurz vor der Amokfahrt.
In der Zeit, als er von zu Hause weggewiesen wurde, habe er sich „wie ein Hund“behandelt gefühlt. Er habe nach den Schuldigen gesucht, die ihm das alles angetan haben. Wenn diese Phase des Aggressionsaufbaus nicht gestoppt werde, stehe am Ende die Ausführung der Wutentladung.
Es war, sagt Raiger, ein Akt der Rache an der Gesellschaft. Geplant und ausgeführt, so glaubt die Psychologin, nach dem Muster des Computerspiels Grand Theft Auto (GTA), eine Mischung aus Auto- und Shooterspiel, das er spielte. „Er steht an der roten Ampel, fühlt sich bedroht, dann wird es grün, er gibt Vollgas, jetzt geht es los, volle Kanne. Ziel erreicht. Game over.“
Das Urteil stand zu Redaktionsschluss noch aus.