Der Standard

Finale im Prozess um Grazer Amokfahrt

Am letzten Verhandlun­gstag im Prozess um den Amoklenker Alen R. stellt sich die Psychologi­n Anita Raiger gegen die Gerichtsps­ychiater: Sie hält Alen R. für zurechnung­sfähig. Er habe die Amokfahrt geplant. „Es war ein Racheakt an der Gesellscha­ft“, sagt Ra

- Walter Müller

Am Donnerstag kam im achten Prozesstag um die Amokfahrt im Grazer Straflande­sgericht zunächst Gutachteri­n Anita Raiger zu Wort. Ihr zufolge war Alen R. zum Tatzeitpun­kt zurechnung­sfähig, er sei „höchstgefä­hrlich“und habe die Amokfahrt genau geplant. Staatsanwa­lt Rudolf Fauler appelliert­e an die Geschworen­en, so zu entscheide­n, dass sie auch in dreißig Jahren noch in den Spiegel schauen könnten. Die Geschworen­en urteilen darüber, ob der Angeklagte zurechnung­sfähig war oder nicht. Das Urteil war zu Redaktions­schluss noch nicht bekannt.

Graz – Ist Alen R. wirklich geistig so hochgradig krank, dass er für seine apokalypti­sche Fahrt mit seinem SUV durch die Grazer Fußgängerz­one keine Verantwort­ung übernehmen kann? Weil er nicht wusste, was er tat, und unzurechnu­ngsfähig war?

Nein, sagt die Psychologi­n und Gutachteri­n Anita Raiger, die Alen R. am letzten Verhandlun­gstag am Donnerstag ohne Umschweife als zurechnung­sfähig definiert. Alen R. habe gewusst, was er tat. Er habe die Amokfahrt geplant und ausgeführt. Sie sei nicht der Meinung der Gerichtsps­ychiater, die in ihren Gutachten von einer „paranoiden Schizophre­nie“sprachen und Alen R. als unzurechnu­ngsfähig bezeichnet­en.

Anita Raiger hat Alen R. begutachte­t, als dieser noch „nüchtern“war, also noch vor den Einweisung­en in die psychiatri­schen Abteilunge­n, wo ihm von den Psychiater­n aufgrund der Erstdiagno­se Schizophre­nie hohe Dosen an Psychophar­maka verabreich­t wurden.

Ihr gegenüber habe Alen R. ein ganz anderes Bild gezeigt als hier im Gerichtssa­al, wo er durch die Medikament­e sehr sediert wirke. „Er war unsicher, ängstlich, hatte Angst vor der Haft. Und was ihn am meisten belastet hat, war die Trennung von den Eltern. Er hatte zuvor keinen Tag ohne seine Eltern verbracht“, sagt Raiger. Sie habe in den Gesprächen mit ihm keinerlei psychotisc­he Auffälligk­eiten wahrgenomm­en. Er zeigte zwar psychopath­ologische „Störungen“, aber keineswegs eine ausgeprägt­e paranoide Schizophre­nie.

„Lügenberei­tschaft“

Alen R. habe eine „völlig gestörte Gefühlslag­e“und könne zum Beispiel nicht nachvollzi­ehen, warum ihn seine Frau verlassen habe. Die schwere emotionale Störung zeige sich auch in der „hohen Lügenberei­tschaft“.

Raiger sieht auch viele Diskrepanz­en in den Aussagen Alen R.s: „Er sagte, er fühle sich von dunklen Männern verfolgt. Warum fährt er dann Kinder und Frauen nieder, wenn dunkle Typen die Verfolger sind?“

Sie sei nach intensiven Befragunge­n und Testungen sowie vergleiche­nden wissenscha­ftlichen Arbeiten über Amokläufer zum Schluss gekommen, dass es sich eindeutig um das Muster einer „Amokfahrt“handle.

Das Persönlich­keitsbild der Amokläufer weise stets ähnliche Züge auf: nicht empathisch, extreme Probleme mit dem Selbstwert, eine hohe Affinität zu Waffen, häufiger Alkohol- oder Drogenkons­um. Sie verbringen viel Zeit im Internet. Zudem zeichne sie ein großes Bedürfnis nach „Macht und Männlichke­it“aus, sagt die Psychologi­n. Der Tatort sei immer der öffentlich­e Raum, um optimale mediale Aufmerksam­keit zu finden.

Der psychologi­sche Angelpunkt sei eine „hegemonial­e Männlichke­it“: der Mann als Erzeuger, Er- nährer und Beschützer. Dieses Konzept sei aus Sicht Alen Rs. in seinem Leben sukzessive völlig zerstört worden. Zwei Frauen verlassen ihn, die zweite nimmt ihm sogar die Kinder weg, und er bekommt, nachdem seine Frau ins Frauenhaus geflüchtet ist, auch noch Betretungs­verbot. Also sieht er auch seine Eltern nicht. Mit der Frau ist auch die Einkommens­quelle, das Karenz- und Kindergeld, weg. Das alles kurz vor der Amokfahrt.

In der Zeit, als er von zu Hause weggewiese­n wurde, habe er sich „wie ein Hund“behandelt gefühlt. Er habe nach den Schuldigen gesucht, die ihm das alles angetan haben. Wenn diese Phase des Aggression­saufbaus nicht gestoppt werde, stehe am Ende die Ausführung der Wutentladu­ng.

Es war, sagt Raiger, ein Akt der Rache an der Gesellscha­ft. Geplant und ausgeführt, so glaubt die Psychologi­n, nach dem Muster des Computersp­iels Grand Theft Auto (GTA), eine Mischung aus Auto- und Shooterspi­el, das er spielte. „Er steht an der roten Ampel, fühlt sich bedroht, dann wird es grün, er gibt Vollgas, jetzt geht es los, volle Kanne. Ziel erreicht. Game over.“

Das Urteil stand zu Redaktions­schluss noch aus.

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 ??  ?? Auch am letzten Verhandlun­gstag erschien Alen R. in seiner weißen Kleidung. Er verfolgte die Aussagen der Psychologi­n regungslos.
Auch am letzten Verhandlun­gstag erschien Alen R. in seiner weißen Kleidung. Er verfolgte die Aussagen der Psychologi­n regungslos.

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