Der Standard

Wie verteidige­n wir die Demokratie?

In schwierige­n Zeiten tendieren die Menschen dazu, die Türen zu schließen und unter ihresgleic­hen zu bleiben. Viele Politiker versuchen, genau daraus Kapital zu schlagen. Daran drohen unsere Demokratie­n Schaden zu nehmen.

- Kenneth Roth KENNETH ROTH ist Executive Director von Human Rights Watch.

Demokratie braucht Menschenre­chte. Den meisten mag dies offensicht­lich erscheinen, und dennoch werden in Europa immer mehr Stimmen laut, die unter Demokratie nichts weiter verstehen, als Wahlen zu gewinnen und dann das zu tun, was die Wähler vermeintli­ch wünschen. Für diese Menschen ist Demokratie offenbar eine Art „Diktatur der Mehrheit“.

Sicherlich sollte das Handeln einer Regierung die Präferenze­n der Mehrheit widerspieg­eln, die regelmäßig in freien und fairen Wahlen ermittelt werden. Dabei muss sie sich jedoch innerhalb der Grenzen bewegen, die ihr durch den Menschenre­chtsschutz und die Rechtsstaa­tlichkeit vorgegeben werden. Gewisse Dinge sollten der Regierung selbst dann verboten bleiben, wenn eine Mehrheit der Wählerscha­ft sie befürworte­t, etwa die Einführung der Todesstraf­e, Inhaftieru­ngen aus politische­n Gründen, die Einschränk­ung der Redeund Versammlun­gsfreiheit oder Diskrimini­erung auf der Grundlage von Geschlecht, Ethnizität, Religion oder sexueller Orientieru­ng.

Beherzigt man dieses tiefere Demokratie­verständni­s, wird deutlich, dass wir in schweren Zeiten für die Demokratie leben – sowohl in Europa als auch in den USA. Wie wirksam wir die Menschenre­chte schützen können, hängt letzten Endes von ihrer öffentlich­en Akzeptanz ab. Heute stellen mehr Menschen fundamenta­le Menschenre­chtsprinzi­pien infrage als vor Jahrzehnte­n.

Die Gründe dieser wachsenden Intoleranz sind nicht schwer zu bestimmen: Wir leben in einer Zeit der wirtschaft­lichen Unsicherhe­it, in der viele Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu werden. Wir leben auch in einer Zeit der physischen Unsicherhe­it, in der Menschen willkürlic­h getö- tet werden, wenn sie ein Konzert besuchen, ein Feuerwerk anschauen oder bloß zu ihrem Flug einchecken wie bei den Anschlägen von Paris, Nizza und Brüssel. Und wir leben in einer Zeit der kulturelle­n Unsicherhe­it, in der die Ankunft zahlreiche­r Flüchtling­e die Angst vor einem Verlust der nationalen oder europäisch­en Identität schürt.

In solchen Zeiten tendieren wir dazu, uns zurückzuzi­ehen, Zuflucht inmitten derer zu suchen, die uns am ähnlichste­n sind, und allen anderen die Tür zu verschließ­en. Dieser Instinkt bildet die Grundlage für den Diskurs des Hasses und der Intoleranz, der immer mehr an Einfluss gewinnt. Bedauerlic­herweise versuchen viele Politiker aus diesen Ängsten politisch Kapital zu schlagen.

Man sollte meinen, moderate Politiker würden angesichts der enormen Risiken Alarm schlagen, die Demagogen öffentlich schmähen und die Bedeutung von Rechten und liberalen Werten für unsere Demokratie betonen. Doch nur die wenigsten stellen sich dieser Herausford­erung. Viele Politiker versuchen sie vielmehr auszusitze­n. Offenbar hoffen sie, der Hass werde von alleine verpuffen. Andere wollen den Demagogen die Zähne ziehen, indem sie ihnen nacheifern und fremdenfei­ndliche Positionen oder Vokabeln übernehmen. Dahinter steht die naive Hoffnung, man könne den Extremiste­n ihre Unterstütz­er abwerben, indem man deren Ansichten legitimier­t. Gleichwohl gibt es auch Ausnahmen: Angela Merkel, Justin Trudeau und Alexis Tsipras haben sich positiv über Flüchtling­e geäußert.

Natürlich steht in unseren Demokratie­n nicht alles zum Besten. Wir sollten die Populismus­welle zum Anlass nehmen, uns den tatsächlic­hen Problemen zu stellen: der mangelhaft­en Integratio­n vieler Einwandere­r, dem übermäßige­n Einfluss des Geldes auf die Politik, der Ungerechti­gkeit in unseren Steuersyst­emen, den Tendenzen des Welthandel­s, Konzernint­eressen über Arbeitnehm­errechte und Umweltschu­tz zu stellen, und der Lähmung und Spaltung in vielen Bereichen der Europäisch­en Union.

Um den Populisten wirksam entgegenzu­treten, muss man auf die wirklichen Fragen, die sie aufwerfen, Antworten finden und gleichzeit­ig ihrem Affront gegen unsere Werte Einhalt bieten. Dabei sollten wir uns von der Menschlich­keit, die so viele Europäer gegenüber Flüchtling­en gezeigt haben, ermutigen lassen.

Die Bedrohung der demokratis­chen Prinzipien und Institutio­nen wird nicht von alleine vergehen. Wir alle müssen öffentlich und lautstark für eine robuste Demokratie eintreten, indem wir die Rechte und Werte verteidige­n, die unsere Gesellscha­ft stark machen.

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Ausnahmen und die Regel: Angela Merkel (im Bild bei einem Selfie mit einem Flüchtling im Herbst 2015), Justin Trudeau und Alexis Tsipras haben sich positiv über Flüchtling­e geäußert.
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Foto: Reuters Kenneth Roth: Viele glauben, der Hass werde verpuffen.

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