Der Standard

Per Kompromiss ins höchste Amt des Staates

- Andreas Stangl

Kersti Kaljulaid ist nicht nur die erste Frau an der Spitze Estlands, sie ist mit ihren 46 Lebensjahr­en auch das bisher jüngste Staatsober­haupt der kleinsten der drei baltischen Republiken. Bis vor wenigen Tagen war ihr Name auch in ihrer Heimat nur ganz wenigen geläufig. Selbst Insider zeigten sich überrascht, als sie am Sonntag, nur einen Tag vor der Wahl, zur einzigen Kandidatin für den bisher noch nie notwendig gewordenen sechsten Anlauf bei der Wahl des Staatsober­haupts im Parlament nominiert wurde.

Politisch steht Kaljulaid dem nationalis­tischen Rechtsbünd­nis der IRL nahe, deren Vorgängerp­artei („Pro-Patria-Union“) sie von 2001 bis 2004 auch formell angehörte. Sich selbst bezeichnet die neue Präsidenti­n, die als Kompromiss­kandidatin ins Amt gehievt wurde, als liberalkon­servativ. Durch besonderes politische­s Engagement ist sie sich bisher allerdings nicht aufgefalle­n. Zuerst als Biologin im Spezialfac­h Vogelkunde ausgebilde­t, schloss sie an der Universitä­t ihrer Geburtssta­dt Tartu auch ein Wirtschaft­sstudium mit einem Master of Business Administra­tion (MBA) ab. Danach machte sie bei diversen Finanz-, Telekom- und Energieunt­ernehmen als Managerin Karriere.

1999 holte sie der damalige Pro-Patria-Vorsitzend­e und Regierungs­chef Mart Laar als Wirtschaft­sberaterin für drei Jahre in sein Kabinett. Seit 2004 vertrat Kaljulaid Estland beim Europäisch­en Rechnungsh­of.

Die in zweiter Ehe mit dem russischst­ämmigen Kybernetik­er GeorgiRene Maksimovsk­i verheirate­te vierfache Mutter machte in einem Interview klar, dass sie in Bezug auf die Probleme der russischsp­rachigen Minderheit, die immerhin rund ein Viertel der Gesamtbevö­lkerung ausmacht, keinerlei Handlungsb­edarf sieht. Gleichzeit­ig kündigte sie aber auch an, sich für eine Entpolaris­ierung der Gesellscha­ft einsetzen zu wollen. Kaljulaid spricht eigenen Angaben zufolge – im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Toomas Hendrik Ilves, einem unermüdlic­hen Moskau-Kritiker – zumindest ein wenig Russisch.

Der 50-jährige Ehemann der Präsidenti­n ist derzeit auch aus ganz anderen Gründen im Gerede. In den sozialen Medien wird über seine angebliche Tätigkeit für den estnischen Geheimdien­st ebenso diskutiert wie darüber, dass sein Vater einst als Soldat in der Roten Armee gedient hat. Ein Umstand, der in Estland heute schon genügt, um auch den Sohn in ein schiefes Licht zu rücken.

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Foto: AFP Kersti Kaljulaid wurde zur Präsidenti­n Estlands gewählt.

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