Aleppos verlorene Ärztin
Avjeen Ahmed floh von Syrien nach Österreich – hier will sie Medizin studieren
PORTRÄT: Wien – Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, wäre Avjeen Ahmed jetzt bereits angehende Ärztin. Die 19-Jährige wusste schon mit zwölf Jahren, dass sie einmal Leben retten möchte. Später, als der Krieg kam, schien sich der Wunsch als Berufung aufzudrängen. Viel Blut habe sie gesehen, sagt sie.
Drei Jahre haben Ahmed und ihre Familie in Syrien ausgeharrt, zum Schluss war nichts mehr übrig: kein Haus, keine Arbeit, kein Essen. Die junge Frau, die Französisch gehasst hat, aber immer gut in Mathe war, hat das Gymnasium in Kobane besucht, die Matura in Aleppo abgelegt. Im Chaos des Krieges braucht man für den Weg zwischen den beiden syrischen Städten zehnmal so lange wie sonst, zwanzig Stunden war sie unterwegs. Dann floh die Familie in die Türkei. Die Möglichkeit, ein Medizinstudium zu beginnen, schien dahin.
380 Tage ist es her, dass Ahmed ihre Familie das letzte Mal gesehen hat. Die Eltern und zwei der jüngeren Geschwister sitzen in Istanbul fest. Dort gibt es keine Schule und keine Papiere. Ahmed ist jetzt in Wien. Ihre Eltern schickten sie und ihre 13jährige Schwester in dem kleinen Boot übers Meer. Camps in Griechenland, Serbien und Ungarn wurden zu ihrem Zuhause. Jetzt sind die beiden Ottakringerinnen.
Statt über die menschliche Anatomie zu lernen, beschäftigt sie sich mit „Dativ, Akkusativ, Präteritum“. Die Medizin-Uni Wien verlangt ein Deutschlevel von C1. In Traiskirchen gab es aber nicht ausreichend Deutschkurse. Ein paar Stunden die Woche dolmetscht Ahmed für das Rote Kreuz Arabisch, Englisch und Deutsch. So bald wie möglich will sie den Aufnahmetest an der Medizin-Uni machen.