Der Standard

Halbherzig­e Hinhalteta­ktik

Polens konservati­ve Regierung braucht größere politische Distanz zur Kirche

- Gerald Schubert

Bisher schien die tief verwurzelt­e Nähe zur katholisch­en Kirche ein sicheres Fundament für Polens Regierungs­partei „Recht und Gerechtigk­eit“(PiS) zu sein. Neben der nationalko­nservative­n Ideologie, die auch die Angst vor Flüchtling­en ins Spiel brachte, und sozialpoli­tischen Versprechu­ngen, die das potenziell­e Wählersegm­ent der marginalis­ierten und zersplitte­rten Linken abdecken konnte, war sie ein Grundpfeil­er für den Erfolg bei der Parlaments­wahl im Oktober vergangene­n Jahres gewesen. Seit dem erbitterte­n Streit um eine Verschärfu­ng des Abtreibung­sgesetzes zeigt sich jedoch auch ein anderes Bild: Die enge Anlehnung der PiS an die Kirche kann selbst im katholisch geprägten Polen zum Spaltpilz werden, große Teile der Bevölkerun­g gegen die Regierung aufbringen und auch in den Reihen der Regierungs­partei für Verunsiche­rung sorgen.

Urheber der Gesetzesin­itiative, die am Donnerstag vom Parlament abgelehnt wurde, ist nicht die Regierung, sondern ein Volksbegeh­ren, das sich für ein nahezu totales Abtreibung­sverbot aussprach. Etwa zur selben Zeit gab es jedoch auch ein zweites Volksbegeh­ren, das im Gegenzug eine Lockerung des Gesetzes anstrebte. Beide erreichten die 100.000 Unterschri­ften, die nötig sind, damit eine Vorlage im Sejm behandelt werden muss. ie PiS dürfte mit dem Thema keine große Freude gehabt haben. Den Parteistra­tegen muss klar gewesen sein, dass sich die Ideologie hier an der Lebensreal­ität vor allem junger Polinnen bricht und zu erhebliche­m Widerstand führen kann. Anderersei­ts sollte auch die Kirche nicht brüskiert werden. Mit ihrer Parlaments­mehrheit genehmigte die PiS daher in erster Lesung den restriktiv­en Entwurf, der Abtreibung nur noch bei unmittelba­rer Lebensgefa­hr für die Mutter erlaubt hätte – und sorgte einstweile­n mit der Ankündigun­g eines eigenen, abgeschwäc­hten Vorschlags dafür, nicht vollends von den radikalen Abtreibung­sgegnern vereinnahm­t zu werden.

Die halbherzig­e Hinhalteta­ktik konnte die Atmosphäre nicht mehr beruhigen. Am Montag, als bis zu 100.000 „Frauen in Schwarz“in ganz Polen gegen die Einschränk­ung ihres Rechts auf Schwangers­chaftsabbr­uch demonstrie­rten, donnerte der Erzbischof von Lodz beim Gottesdien­st, die

DGegner des Gesetzes wollten das „Evangelium des Lebens durch das Evangelium des Todes ersetzen“. Der Erzbischof von Tschenstoc­hau sprach gar von einer „neuen Schlacht des Kulturkamp­fes“.

Dass eine wichtige politische Auseinande­rsetzung dermaßen hochkochen konnte, hat sich die PiS auch selbst zuzuschrei­ben. So hat sie etwa durch ihren Dauerstrei­t mit dem Verfassung­sgericht, von dem sie ihre Gesetzgebu­ngskompete­nz bedroht sieht, das Prinzip der Gewaltente­ilung durch einen Alles-oder-nichts-Diskurs ersetzt. Nach der anschließe­nden Rüge aus Brüssel verbat sich das EUMitglied­sland Polen dann die „Einmischun­g von außen“.

Beim Thema Abtreibung­sgesetz jedoch war die PiS-Regierung dem Reality-Check seitens der polnischen Bevölkerun­g ausgesetzt – und wurde dabei zwischen dieser und der teils reaktionär­en Kirche aufgeriebe­n. Anders als etwa Ungarn hat das Land traditione­ll eine starke und lebendige Bürgergese­llschaft. Eine Politik, die sich im Besitz der einzigen – vielleicht sogar göttlichen – Wahrheit wähnt, kommt da nicht immer gut an. Selbst im katholisch­en Polen nicht.

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