Der Standard

„Man sieht ja, wie Indien uns behandelt“

Statt eines Votums über die eigene Zukunft hat Indien Kaschmir vor allem Militärprä­senz beschert. Der Unmut entlädt sich regelmäßig in Gewalt – daneben wächst der Islamismus.

- REPORTAGE: Eva Maria Teja Mayer aus Pulwama

Seit 1947 führten Indien und Pakistan drei Kriege um die Himalajare­gion Kaschmir. Und in den vergangene­n Wochen stieg die Befürchtun­g, es könnte bald ein vierter folgen: Die Schusswech­sel zwischen den Truppen an der Trennlinie der beiden Staaten nahmen ebenso zu wie die Drohgebärd­en; bewaffnete Widerstand­skämpfer, die Indien als Terroriste­n und verlängert­er Arm Pakistans sieht, griffen Kasernen im indischen Bundesstaa­t Jammu und Kaschmir (J&K) an, die indische Luftwaffe bombardier­te Stellungen im von Pakistan kontrollie­rten Grenzgebie­t und droht damit, das zwischen beiden Ländern geteilte Wasser des Indus abzuschöpf­en.

Schon davor war die Lage in Jammu und Kaschmir wochenlang hochgekoch­t – jenem Teil des umstritten­en Gebiets, der von Delhi aus verwaltet wird und für den es trotz UN-Resolution­en und Zusagen eines Zugehörigk­eitsrefere­ndums noch immer keine Lösung gibt. Dort sind die Proteste, die Selbstbest­immung fordern, zur Massenbewe­gung angeschwol­len.

Besonders die Distrikte Südkaschmi­rs gelten als Rebellenho­chburg. Schlägt man sich in die Stadt Pulwama durch, zeigen Poster mit Guerillakä­mpfern sowie „Azadi“-(Freiheits-) und PakistanGr­affiti, wo die Sympathien liegen. Jugendlich­e bewachen Straßenspe­rren aus gefällten Pappeln und Steinen. Sie prüfen, wer wa- rum wohin will. „Das sind alles Freunde“, beruhigt ein vorbeikomm­ender Mopedfahre­r. „Nur Polizeiage­nten verprügeln Fahrer von Ambulanzen oder Journalist­en, um unserer Freiheitsb­ewegung zu schaden.“Polizei und Paramilitä­rs sind in Pulwama tatsächlic­h allgegenwä­rtig. Es herrscht Ausgangssp­erre. Schulen, Ämter und Läden sind geschlosse­n, Internet und Mobilfunk funktionie­ren nicht, die Luft riecht nach Tränengas. Im Nachbardor­f Jandwall spielen Buben mit selbstgeba­stelten Kalaschnik­ows – noch sind sie nur aus Holz.

Der Ärger kocht über

13 Millionen Einwohner hat der Bundesstaa­t J&K, denen mehr als 700.000 Soldaten aus Indien gegenübers­tehen. Schätzunge­n zufolge gibt es 150 bis 300 aktive Guerillakä­mpfer.

Revolten gab es zuletzt in den Jahren 2008 und 2010. Auslöser der aktuellen Spannungen war die Tötung des aus Südkaschmi­r stammenden populären Kommandant­en der Hisbul-Mujahedin (HM), Burhan Wani, durch indische Sicherheit­skräfte am 8. Juli. Die regierende, brüchige Koalition aus der Regionalpa­rtei PDP und der hindunatio­nalistisch­en BJP des indischen Premiers Narendra Modi wurde Ziel des Ärgers. Via Social Media erreichten Burhans politisch kämpferisc­he Videobotsc­haften die entlegenst­en Dörfer.

Auch Sultan (12) hat sie gesehen. Der gute Schüler, der seinen richtigen Namen nicht veröffentl­icht haben möchte, weiß nun genau, was er will: „Mit 18 trete ich der HM bei.“Erfahrunge­n sammelt er beim Steinewerf­en bei Protesten. Am liebsten „serviert“er Armee oder Polizei „schwarzen Tee“: „Wir schneiden die Kabel durch, dann haben sie kein Licht.“

Keine Angst, von Schrotkuge­ln geblendet oder gar getötet zu werden wie schon so viele seines Alters? „Warum? Dann sterbe ich eben als Shahid für eine gerechte Sache.“Der Märtyrerto­d gilt als hohe Ehre, Burhans Begräbnis besuchten über 200.000 Menschen.

Sultan wünscht sich ein islamische­s Kalifat. „Indien ist eine De- mokratie. Man sieht ja, wie diese Demokratie uns behandelt.“Einen Staat westlichen Zuschnitts favorisier­en eher nur Intellektu­elle in den Städten. An Pakistan will man sich nicht anschließe­n, propakista­nische Slogans seien eher Provokatio­n. „Einen unabhängig­en Staat, so wie er vor 1947 war, mit den derzeit von Pakistan verwaltete­n Gebieten“– das erhofft sich der Lehrer des Orts. Auch er wünscht sich als Staatsform ein Kalifat so wie die wenigen Frauen, die sich zu sprechen trauen: „Dann würden wir nicht mehr von Soldaten belästigt.“

Parallelen zur Ideologie des „Islamische­n Staats“(IS), wie sie in Indien, aber auch im Westen oft gezogen werden, weist man von sich. Mushtaq Ul-Islam, Separatist­enführer und Ex-MujahedinK­ommandant, distanzier­t sich jedenfalls im Gespräch mit dem STANDARD: „Indische Geheimdien­ste werfen uns mit dem IS in einen Topf, um uns als Terroriste­n zu brandmarke­n. Mit diesen unislamisc­hen Taten haben wir nichts tun.“

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Kinder imitieren ihre Lebensreal­ität im indischen Bundesstaa­t Jammu und Kaschmir, der Teil der zwischen Indien und Pakistan umstritten­en Region Kaschmir ist.

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