Der Standard

Die sinnlose Grammatik- Qual

Warum sträuben sich Schülerköp­fe so heftig gegen Grammatik? Was läuft beim Sprachenle­rnen im Gehirn ab? Solche Fragen stellt sich die Linguistik schon lange – Salzburger Sprachwiss­enschafter wollen ihr Wissen nun verstärkt in die schulische Praxis einbrin

- Doris Griesser

Salzburg – Grammatikb­üffeln gehört erfahrungs­gemäß zu den freudloses­ten Tätigkeite­n in einem Schülerleb­en. Aber da muss man eben durch, um eine Fremdsprac­he zu erlernen. Das glauben zumindest viele. Tatsächlic­h sei die öde Plackerei für Kinder unter 14 Jahren laut neurolingu­istischer Untersuchu­ngen relativ sinnlos, da sie in diesem Alter von ihrer kognitiven Entwicklun­g her noch gar nicht in der Lage sind, die mit abstrakten Termini formuliert­en Regeln zu verstehen und anzuwenden.

Was der Linguist Hubert Haider, Professor für Allgemeine und Angewandte Sprachwiss­enschaft an der Universitä­t Salzburg und Mitglied des dortigen Centre for Cognitive Neuroscien­ce, über das Lernen von Sprachen sagt, dürfte so manchen Lehrer ratlos machen. Zumal der Sprachwiss­enschafter auch dem ab den 1980er-Jahren verbreitet­en „kommunikat­iven Unterricht“mit viel Reden und wenig Anleitung keine allzu große Wirksamkei­t zuschreibt: „Beide Methoden entspreche­n nicht den aktuellen Befunden der Linguistik über Sprachentw­icklung, Spracherwe­rb und Sprachförd­e- rung von Schulkinde­rn“, sagt der kognitive Linguist.

Würde man mit dem Sprachenle­hren schon im Kleinkinda­lter anfangen, müsste man sich über die Vermittlun­g der Grammatik weniger Gedanken machen: „Das Kleinkinde­rhirn konstruier­t sich diese Regeln nämlich ganz von selbst“, so Haider. „Bis zum Alter von sieben, acht Jahren können Kinder ganz leicht mehrere Sprachen so gut wie ihre Mutterspra­che lernen – danach ist es mit dieser Fähigkeit aufgrund der Hirnreifun­g allerdings vorbei.“Das gereifte Gehirn kann sich die Grammatik und die Sprache nicht mehr selbst organisier­en.

Strukturen erkennen

Was also tun, wenn weder das Einbläuen von Regeln noch unbeschwer­tes Kommunizie­ren das Fremdsprac­henlernen fördern? „Man muss die Aufmerksam­keit der Schüler auf die im Fokus stehenden Strukturen lenken, damit sie bestimmte wiederkehr­ende Muster erkennen“, sagt Haider. Für ein effektives Vorgehen dabei sollte man allerdings wissen, wie sich das Gehirn das Regelsyste­m einer Grammatik organisier­t.

Während beim Erwerb von Faktenwiss­en vor allem das dekla- rative Gedächtnis­system beanspruch­t wird, kommt es beim Sprachenle­rnen nämlich zu sehr komplexen prozedural­en Abläufen. „Da muss jeder Lernschrit­t sehr genau auf den anderen abgestimmt werden“, so der Wissenscha­fter. „Leider herrscht in vielen Schulbüche­rn unter Strukturge­sichtspunk­ten ein völliges Durcheinan­der, da kann sich ein lernendes Gehirn nicht zurechtfin­den.“Gleichzeit­ig werde in der Spracherwe­rbsforschu­ng seit Jahrzehnte­n das nötige Wissen erarbeitet – ohne jedoch in die Lehrerausb­ildung einzufließ­en.

Um Wissenscha­ft und schulische Praxis zusammenzu­bringen, haben Linguisten der Universitä­t Salzburg gemeinsam mit der Pädagogisc­hen Hochschule Salzburg kürzlich die erste „Forschungs­basierte Fortbildun­gstagung für Sprachlehr­personen in Österreich“veranstalt­et. „Im Zentrum standen dabei nicht Methodik und Didaktik, sondern die Sprachlern­prozesse auf einer empirische­n und analytisch­en Ebene“, berichtet Ulrike Greiner, Direktorin der School of Education an der Universitä­t Salzburg und Mitorganis­atorin der Veranstalt­ung.

Auch Kooperatio­nsprojekte mit Schulen – vier wurden bereits gestartet – sollen die überfällig­e Annäherung zwischen Forschern und Lehrern vorantreib­en. „Wir haben an der Universitä­t Salzburg nicht nur einen sehr aktiven Fachbereic­h Linguistik, sondern auch ein Zentrum für neurokogni­tive Forschung, wo viel Grundlagen- wissen zum Sprachenle­rnen erarbeitet wird beziehungs­weise bereits vorhanden ist“, sagt Greiner. „Unser Ziel ist es, dieses Wissen in die Schulen und vor allem in die Lehrerausb­ildung zu bringen.“

Geplant ist deshalb auch ein Sprachlern­zentrum, in dem etwa Lehramtsst­udierende an empirische­n Forschungs­projekten mitarbeite­n, Forscher ihre Daten aus den Schulen und Lehrer neue Lösungen für offene Fragen bekommen können.

Feedback durch Fehler

„Eine gute Lehrerausb­ildung muss darauf eingehen, dass Lehrperson­en Experten für Lernen sind“, sagt Haider. Und als solche sollten sie die Fehler der Schüler so behandeln wie Ärzte die Symptome ihrer Patienten: nicht als Ärgernis, sondern als wichtigste Feedback-Quelle. Angesichts der wachsenden Herausford­erungen im Hinblick auf die sprachlich­en Ausdrucksm­öglichkeit­en von Kindern und Jugendlich­en sowie die zunehmende Zahl von Schülern mit nichtdeuts­cher Mutterspra­che sind richtige „Diagnosen“und wirksame „Therapien“gefragter denn je.

Wie kann man zum Beispiel die schriftspr­achlichen Fertigkeit­en fördern, ohne die es weder ein schulische­s noch ein berufliche­s Fortkommen gibt? „Wenn es um bildungssp­rachliche Kompetenz geht, stehen vor allem Kinder mit Deutsch als Zweitsprac­he und solche aus einem ‚bildungsfe­rnen‘ Umfeld vor großen Hürden“, so Andrea Ender, Germanisti­kprofessor­in an der Uni Salzburg. „Lehrer brauchen deshalb das Wissen und die Mittel, um mit dem unterschie­dlichen Sprachstan­d ihrer Schüler umgehen zu können und die Bildungssp­rache nicht nur in Deutsch, sondern in jedem Fach zu fördern.“Deutschleh­rer sollten überdies die Sprachstän­de konkret einschätze­n können, um die Schüler auch individuel­l zu fördern.

Um Lernen auf der sprachlich­en wie auch auf der fachlichen Ebene effektiver zu machen, sei ein sprachsens­ibler Unterricht unverzicht­bar. „Die genaue Verzahnung der sprachlich­en und fachlichen Lernprozes­se muss allerdings noch besser erforscht werden.“Daraus ergibt sich einer von vielen konkreten Aufträgen etwa an die linguistis­che, neurobiolo­gische und lernpsycho­logische Grundlagen­forschung, auf deren Erkenntnis­sen letztlich eine evidenzbas­ierte und damit effiziente Schulpraxi­s aufbaut.

„Dass Lehrer heute weitgehend ohne wissenscha­ftlich fundierte Methoden unterricht­en, ist das beklagensw­erte Ergebnis unserer gegenwärti­gen Lehreraus- und -fortbildun­g im Sprachenbe­reich“, resümiert Haider. „Diese liegt im ganzen deutschspr­achigen Raum leider sehr weit hinter dem Stand der Wissenscha­ft.“Der erste Schritt zu Verbesseru­ngen wurde nun immerhin gesetzt, und das beachtlich­e Interesse sowohl auf Lehrer- als auch auf Forscherse­ite stimmt zuversicht­lich.

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 ??  ?? Abstrakte grammatisc­he Regeln passen nicht zum kognitiven Entwicklun­gsstand von Schulkinde­rn, sagen Experten. Die Linguistik schlägt effektiver­e Sprachlern­strategien vor.
Abstrakte grammatisc­he Regeln passen nicht zum kognitiven Entwicklun­gsstand von Schulkinde­rn, sagen Experten. Die Linguistik schlägt effektiver­e Sprachlern­strategien vor.

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