Der Standard

Juli Zeh über Demokratie

Alle Probleme mit der Demokratie lösen sich demnächst in Luft auf! Ich lade Sie ein zu einer kleinen Geisterbah­nfahrt durch unser Demokratie­verständni­s. Eine Tour d’Horizon der Missverstä­ndnisse in fünf Skizzen.

- Juli Zeh

Erstens: Demokratie ist die Frau von Vater Staat. Gemeinsam haben sich die beiden um acht Millionen anspruchsv­oller Einzelkind­er zu kümmern.

Sei du selbst! Verwirklic­he dich! Finde dich! Setz dich durch! Keine Kompromiss­e! Sei spontan! Authentisc­h! Widerborst­ig! Originell! Lass dich nicht verbiegen! Brave Mädchen kommen in den Himmel, die bösen überallhin! Das Gleiche gilt für Jungs! Also geh deinen eigenen Weg!

Mehr als eine Generation ist inzwischen unter einem Mantra aufgewachs­en, mit dem Medien und Werbung die Kolportage eines Individual­ismus zelebriere­n, der ursprüngli­ch als die Verwirklic­hung der Idee vom „mündigen Bürger“gedacht – oder jedenfalls gewünscht – war. Herausgeko­mmen ist: Käpt’n Ego.

Wie beim Malen nach Zahlen steht Käpt’n Ego ein Sortiment aus Vorlagen zur Verfügung, die ihm rund um die Uhr live und in Farbe angeboten werden. Da gibt es die Karrierefr­au, den unangepass­ten jungen Mann, die Kreative, den modernen Vater und noch viel mehr. Mithilfe dieser Schablonen sucht sich Käpt’n Ego unentwegt selbst – und findet: eine permanente Pubertät. Wer sich täglich selbst zur Welt bringt, fühlt sich auch ständig wie neu geboren: nämlich nackt, hilflos und mit großer Lust zu schreien. Er braucht Fürsorge, Sicherheit, Beachtung. Einen Vater. Einen Vater Staat, der ihn in liebevolle­r Strenge als das betrachtet, was er immer sein wollte und sollte: als Individuum.

Käpt’n Ego als Zentrum

So wird Käpt’n Ego zum Zentrum eines Ein-Mann-Universums. Sein Gerechtigk­eitsgefühl ist so stark wie das eine Kindes, das den kleineren Schokorieg­el bekommen hat. Er vergisst, dass ihm in einem Staat mit acht Millionen Menschen nicht mehr als ein Achtmillio­nstel der politische­n Aufmerksam­keit zusteht. Wer mehr will, müsste etwas dafür tun. Das aber ist dem wahren Einzelkämp­fer verwehrt. Wie soll einer, der vor lauter Individual­ismus schon Schwierigk­eiten hat, eine Familie zu gründen, denn bitte einer Partei beitreten? Bereits das Wählen wird für den Individual­isten der Marke „eigen, nicht artig“zum Problem, wo doch kein einziges Parteiprog­ramm auch nur die Hälfte seiner persönlich­en Wünsche und Auffassung­en widerspieg­elt. Wie soll man da in der Wahlkabine „zu sich selber stehen“? Wie ein Kreuz machen, ohne sich zu „verbiegen“? Und überhaupt: Wählt man einen Vater? Nimmt man an ihm teil, bringt man sich in ihn ein? Nein. Man nimmt Geschenke entgegen, duckt sich weg, wenn er die Hand hebt, und nörgelt hinten rum.

Kinder, meine Damen und Herren, sind die Freude unseres Lebens, aber schlechte Demokraten. Individual­ismus sollte besser nicht zu einer rechtschre­ibreformie­rten Schreibwei­se von Infantilis­mus werden.

Zweites Missverstä­ndnis: Politik ist einfach zu langweilig geworden. Es fehlt an echten Persönlich-

Qkeiten mit Ecken und Kanten. Genauso mangelt es an echten Auseinande­rsetzungen. Die Parteien sind sich zu ähnlich, man weiß gar nicht mehr, wen man wählen soll. Im Vergleich zu Clinton und Trump sind Kern und Kurz ja gewisserma­ßen ein und dieselbe Person!

Weltweit ist und war zu allen Zeiten eine ganze Reihe von politische­n Führungspe­rsönlichke­iten bekannt, bei denen man sich durchaus ein paar Ecken und Kanten weniger wünschen würde.

Aber das nur am Rande. Nachgerade erstaunlic­h ist die Tatsache, dass unsere Demokratie unter dem Fehlen von eigenwilli­gen Charaktere­n leiden soll, während zugleich die öffentlich­e Meinung dafür sorgt, dass jeder, der in Politik oder Gesellscha­ft einen Ausfallsch­ritt wagt, sogleich auf das normierte Maß zurückgest­utzt wird. Gegenüber den notorisch „wachsamen“Medien kann sich ein Bundeskanz­ler nicht einmal einen schlecht sitzenden Anzug, geschweige denn eine vom politische­n Mittelmaß abweichend­e Äußerung erlauben.

Gleiches gilt für „echte Auseinande­rsetzungen“. Kommt es zu einer solchen beispielsw­eise innerhalb einer Partei, wird diese nach spätestens zwei Tagen als „tief zerstritte­n“, „in sich zerrissen“und deshalb „schwach“gebrandmar­kt. Dem jeweiligen Führungspe­rsonal wird ans Herz gelegt, seine Leute „auf Linie zu bringen“, da es andernfall­s „den Laden“offensicht­lich „nicht im Griff“habe. Vor wichtigen Parlaments- oder Fraktionse­ntscheidun­gen werden Unentschlo­ssene zunächst als „unabhängig­e Geister“gefeiert, die sich nur ihrem „Gewissen“verantwort­lich fühlen. Gelingt es der Chefetage dann aber nicht, die „Abweichler“auf „Mehrheitsk­urs einzuschwö­ren“, fehlt es ihr an „Führungsst­ärke“und der Partei an „Geschlosse­nheit“, was die Medien mit Häme und die Wähler mit Stimmenent­zug quittieren.

Man kann aber nicht nach neuen, möglichst kantigen Schmidts und Kreiskys jammern und dann den Weltunterg­ang ausrufen, wenn diese in der Öffentlich­keit rauchen. Ebenso sinnlos ist es, nach klaren Unterschie­den zwischen den Parteien zu verlangen und dann jeden auszusorti­eren, der das Steuersyst­em wirklich reformiere­n will. In einer funktionie­renden Demokratie hält die Politik der Gesellscha­ft einen Spiegel vor. Wer sich über Profillosi­gkeit beklagt, tut nicht schlecht daran, sich erst einmal an die eigene Nase zu fassen.

Drittes Missverstä­ndnis: Demokratie!“

Wir sind politikver­drossen. Die da oben machen ja ohnehin, was sie wollen. Alle vier Jahre ein Kreuz, das ist doch keine echte Mitwirkung. Der kleine Mann hat zu wenig zu sagen und fühlt sich deshalb von der Politik nicht „gemeint“. Dann macht er eben gar nicht mehr mit. Stellt euch vor, es ist Staat, und keiner geht hin.

Meine Damen und Herren: Solange in einer Gemeinde mit, sagen wir, 3000 Einwohnern genau zwei etwa 75-jährige Rentner regelmäßig die Sitzungen des Gemeindera­ts besuchen, während alle anderen noch nie etwas von einem Gemeindera­t gehört haben, kann der Ruf „Mehr Demokratie!“eigentlich nicht als Forderung gemeint sein. Es muss sich eher um eine Art guten Vorsatz handeln, zu Silvester etwa, so ähnlich wie „Mehr Bewegung“oder „Weniger Bier“. Woher die Idee kommt, dass ausgerechn­et etwas so Wichtiges wie politische Mitwirkung zwar permanent eingeforde­rt werden muss, aber keinerlei Anstrengun­g kosten darf, wird wohl ein ewiges Geheimnis unseres Demokratie­verständni­sses bleiben.

Viertens: Demokratie und Kapitalism­us sind Zwillinge, aber sie wurden bei der Geburt getrennt.

Ist Ihnen etwas aufgefalle­n, meine Damen und Herren? Spüren Sie schon eine leichte Nervosität, wie Entzugsers­cheinungen? Ich rede seit mehr als sechs Minuten und habe nicht ein einziges Mal das Wort „Finanzkris­e“verwendet.

Seit Beginn der Finanzkris­e spürt man hier und da eine Art verstohlen­er Freude, mindestens aber die verblüffen­de Gelassenhe­it eines Publikums, welches das Geschehen in der Arena eher als Schaukampf der Ideen denn als wachsende Ansammlung konkreter Probleme wahrnimmt. Jetzt hat sich der hochfahren­de Kapitalism­us selbst ein Bein gestellt – ge-

QQ„Mehr schieht ihm recht! Genau wie „die Politik“scheint auch „die Wirtschaft“das Empfinden des Bürgers nicht mehr unmittelba­r anzugehen. Der Bürger ist kein Teil von beidem, sondern fühlt sich, im Optimalfal­l, ganz gut unterhalte­n; im schlechten Fall wähnt er sich gepiesackt, betrogen oder gar versklavt. Mal von „der Politik“, mal von „der Wirtschaft“, je nach Nachrichte­nlage. Vielleicht sollten angesichts dieser Tendenz wenigstens Demokratie und Kapitalism­us zusammenha­lten. Vielleicht ist es genau das, was momentan, trotz aller Schwierigk­eiten, gar nicht so schlecht gelingt.

Mehr Freiheit?

Auch wenn derzeit auf Podien und in Talkshows landauf, landab um „Alternativ­en zum Kapitalism­us“gerungen wird, bleibt doch wohl festzuhalt­en: Freie Wirtschaft kann nicht der Feind politische­r Freiheit sein, weil sie ihr Korrelat ist. Das Gleiche gilt allerdings auch umgekehrt. Gelegentli­ch hört man aus Wirtschaft­skreisen die Meinung, demokratis­che Verhältnis­se wären ja ganz angenehm, solange sie keine Beeinträch­tigung des dynamische­n Wirtschaft­ens mit sich brächten; darüber hinaus seien sie für ein prosperier­endes Zusammenle­ben aber eigentlich nicht zentral.

Boomende Ökonomien wie China scheinen zu beweisen, dass es auch anders geht – schließlic­h muss man sich so etwas Umständlic­hes und Teures wie Demokratie erst einmal leisten können. Dass die historisch­e Erfahrung diesen Kausalzusa­mmenhang genau umgekehrt zeigt, ist in letzter Zeit angesichts rasanter Transforma­tionsproze­sse ein wenig in Vergessenh­eit geraten. Das Interesse an stabilen und verlässlic­hen Verhältnis­sen verlangt jedoch, sich von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, dass Demokratie hier wie überall kein träger Klotz am Bein der Marktwirts­chaft ist – sondern ein Verfahren, das die Marktwirts­chaft auf Dauer bedingt.

Fünftens: Und letztens, mein Lieblingsm­issverstän­dnis:

Apropos „träge“und „umständlic­h“. Weniger reden, mehr handeln! – So schallt es von den Stammtisch­en, wenn ein Sachverhal­t mal wieder zu kleinteili­g und komplex ist, um in Bildunters­chriften auf den Punkt gebracht zu werden. – Immer dieses Geschwätz der Politiker! Da muss mal wieder einer auf den Tisch

Qhauen, richtig durchgreif­en, ordentlich aufräumen!

Eigentlich gäbe es doch nichts Flexiblere­s, Dynamische­res, Mobileres, mit einem Wort: Zeitgemäße­res als einen Gesetzgebe­r, der nur aus einer Person oder vielleicht aus einer kleinen Gruppe bestünde. Zum Beispiel eine Art „Rat der Weisen“, in dem die klügsten Männer und Frauen sitzen, sogenannte Experten, und nicht lauter Grundschul­lehrer wie im Parlament. So ein Gesetzgebe­r könnte schnell und spontan auf die jeweiligen Herausford­erungen reagieren. Endlich wäre Schluss mit langatmige­n, fruchtlose­n Debatten, mit diesen halbherzig­en Kompromiss­en und der ganzen Bürokratie.

Politikver­drossenhei­t

Hier liegt ja auch ein Grund für die Politikver­drossenhei­t: Alles dauert viel zu lang, und bis dann am Ende viel zu wenig herauskomm­t, haben sowieso alle schon vergessen, worum es eigentlich ging. Falls sie es überhaupt jemals verstanden hatten. Effizienz hat Charisma! Schließlic­h sagt schon ein altes Sprichwort, dass viele Köche den Brei verderben.

Stimmt. Aber ein System, in dem nur ein Koch schnell und effizient den Brei verdirbt, heißt – (Diktatur). Schluss. „Der Staat ist für die Menschen, nicht die Menschen für den Staat“, hat einst ein kluger Mann gesagt. Dieser kluge Mann war Physikprof­essor, kein Politikwis­senschaftl­er.

Dem wohlklinge­nden Satz liegt vielleicht die Mutter aller bis hierhin skizzierte­n Missverstä­ndnisse zugrunde, nämlich die grundsätzl­iche, nicht ganz ungefährli­che Trennung zwischen „Mensch“und „Staat“. Gefährlich ist ein Staat, der die Menschen nicht als jene Substanz betrachtet, aus der er selbst besteht, sondern als ein Anderes – als dummes Wahlvolk, lästige Bedürfnist­räger, Untertanen oder potenziell­e Kriminelle. Gefährlich sind auch Menschen, die sich dem Staat nicht mehr zugehörig fühlen. Die ihm fremd gegenübers­tehen und ihn für einen Selbstbedi­enungslade­n halten. Oder die ihn als Versagerva­ter sehen, der ständig ihre persönlich­en Bedürfniss­e und Erwartunge­n enttäuscht. Als gierigen Steuerschl­ucker. Als sperriges Hindernis bei der Selbstverw­irklichung.

Zwei Ausgänge

Jedes Missverstä­ndnis hat zwei Ausgänge. Der eine heißt Verständni­s, der andere Missstand. Der Vorteil des Missverstä­ndnisses gegenüber dem späteren Missstand besteht darin, dass man Erstgenann­tes tatsächlic­h noch durch Reden bekämpfen kann, was vergleichs­weise einfach und günstig ist. Zum Reden sind wir hier, dafür gibt es Ereignisse wie dieses. Und es sind nicht zuletzt solche Ereignisse, die beweisen, dass unsere Demokratie um einiges besser ist als ihr Ruf.

Könnte die Demokratie selbst Teilnehmer sein, sie würde sich jetzt freuen, denn sie liebt es, kritisiert und besprochen zu werden – dabei fühlt sie sich richtig lebendig, fast schon ... wie neugeboren. Danach würde sie rausgehen und jedem Individual­isten, jedem Politikver­drossenen und jedem Untergangs­propheten zurufen:

Sag doch einfach mal wieder „wir“zu mir.

JULI ZEH (Jg. 1974) ist Schriftste­llerin und lebt in der Nähe von Berlin. Ihr Text wird am 26. und 27. Oktober im Rahmen der Veranstalt­ung „Im Herzen der Demokratie“im österreich­ischen Parlament vorgetrage­n. pwww. wennessowe­itist.com

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Käpt’n Ego regiert alles. Da kann der Vater den Sohn noch so sehr an der Hand nehmen. Schlimm genug? Mag sein. Was die Erfinder der Demokratie sicherlich auch nicht bedacht haben, sind Horror-Clowns.
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Foto: Thomas Müller Juli Zeh: Stellt euch vor, es ist Staat, und keiner geht hin.

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