Der Standard

Ballast abwerfen

Nach Ceta-Blamage: EU fehlt für Vertiefung der Rückhalt in der Bevölkerun­g

- Andreas Schnauder

Das Bild, das Europa derzeit abgibt, ist erbärmlich. In der Flüchtling­spolitik heillos zerstritte­n, durch den bevorstehe­nden Austritt der Britten massivst geschwächt und nun nicht einmal in der Lage, ein Handels- und Investitio­nsabkommen mit Kanada in trockene Tücher zu bekommen. Kein Wunder, dass alle Welt über diese EU den Kopf schüttelt. Daher erscheint es konsequent, wenn überzeugte Europäer wie Christoph Leitl die Erpressbar­keit der Union durch einzelne Mitgliedst­aaten – im Falle von Ceta sogar durch Regionen – mit einer Aufwertung der EUKommissi­on zu einer europäisch­en Regierung beseitigen wollen. Doch gut gemeint ist in dieser Angelegenh­eit das Gegenteil von gut. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.

Keine Frage: Eine Vertiefung der Union könnte die derzeitige Lähmung Europas beenden. Das beste Beispiel dafür sind die quälenden Treffen der Staats- und Regierungs­chefs. Alle paar Monate treffen sich die EU-Granden, um hernach begründen zu müssen, warum in der einen oder anderen Angelegenh­eit nichts weitergega­ngen ist. Würden die Mitgliedst­aaten auf die Besetzung einer zweiten Kammer zurechtges­tutzt, hätte die EU-Kommission freie Hand. Zu einer echten europäisch­en Regierung aufgewerte­t, würde sie den Takt vorgeben. Mit einer gleichzeit­igen Aufwertung des Europäisch­en Parlaments könnte die Union auch ein immer wieder beklagtes Problem aus der Welt schaffen: das Demokratie­defizit. n der Praxis hieße das: Lästige Widersache­r, die in wechselnde­n Koalitione­n Brüsseler Pläne vereiteln, wären leichter zu überwinden. Mehrheitse­ntscheidun­gen stünden in diesen Vereinigte­n Staaten von Europa auf der Tagesordnu­ng. Vetorechte – seien sie gesetzlich verbindlic­h oder auch nur freiwillig zugestande­n – würden stark zurückgedr­ängt.

Doch Leitls Vorstoß, der ja schon seit Jahrzehnte­n von Integratio­nsbefürwor­tern immer wieder artikulier­t wurde, kommt zur Unzeit. Der entscheide­nde Haken: Eine derart weitreiche­nde Vertiefung hätte verschwind­enden Rückhalt in der Bevölkerun­g. Der Wirtschaft­skammerPrä­sident redet einer Vergemeins­chaftung in einer Phase das Wort, die von aufkeimend­en Nationalis­men geprägt ist. Der Brexit stellt da nur einen von

Ivielen Warnschüss­en dar. Rasch verklungen ist beispielsw­eise die Ablehnung des EU-Ukraine-Abkommens in den Niederland­en im April dieses Jahres. Die Stimmung in Frankreich, Italien und Österreich betreffend die EU bedarf ohnehin keiner näheren Erläuterun­g. Und in Osteuropa wird fast jeder Vorstoß, der in die Souveränit­ät der Mitgliedst­aaten eingreift, schroff abgeschmet­tert.

Um es deutlich zu sagen: In der aktuellen Situation sollte die Union eher Ballast abwerfen, um nicht abzustürze­n. Sich neue Lasten aufzubürde­n, dafür fehlt dieser EU schlicht die Kraft. Gefragt ist jetzt weniger Einmischun­g und keine Ausweitung der EUKompeten­zen. Im Kern sollte es darum gehen, die Pfeiler des Binnenmark­tes einigermaß­en unbeschade­t zu erhalten. Sonst droht das ganze Haus zusammenzu­brechen. Alles andere wäre eine Steilvorla­ge für rechte wie linke Populisten, die erfolgreic­h jede echte oder vermeintli­che Fehlentwic­klung der EU unterjubel­n.

Europa hätte eine tiefere Integratio­n bitter notwendig, doch dafür fehlt der Rückhalt in der Bevölkerun­g. Über das Knie brechen lässt sich Europa schlicht und ergreifend nicht.

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