Der Standard

Räumung von Calais begann ruhig

Tausende Flüchtling­e haben am Montag das Lager in Calais verlassen und werden nun auf das ganze Land verteilt. Und dann? Dann könnten sie bald wieder zurückkehr­en.

- Stefan Brändle aus Paris

Die Räumung des Flüchtling­slagers im nordfranzö­sischen Calais hat am Montag ruhig und ohne Probleme begonnen. Die ersten paar Tausend der insgesamt etwa 6500 Migranten des sogenannte­n „Dschungels“wurden mit Bussen in Unterkünft­e in ganz Frankreich gebracht. In der Nacht war es noch zu Unruhen gekommen.

Endlich bewegte sich etwas im „Dschungel“. Viele der Sudanesen und Eritreer, Afghanen und Iraker wirkten fast erleichter­t, als sie ihre Zelte und Hütten am Montagmorg­en zum letzten Mal verließen, um sich auf eine Busreise ins Unbekannte zu begeben. In der Warteschla­nge erklärte ein Afrikaner, er sei „zufrieden mit Frankreich und sehr unzufriede­n mit England“.

An sich wollten die offiziell etwa 6500 Flüchtling­e und Migranten von dem Sanddünen-Slum nach England übersetzen, wo sie sich sprachlich, familiär und für die Arbeitssuc­he besser aufgehoben wähnen. In letzter Zeit war es aber immer schwierige­r geworden, als blinder Passagier per Sattelschl­epper und Fährschiff über den Ärmelkanal zu gelangen. Wegen der unwürdigen Bedingunge­n – und des einsetzend­en Präsidents­chaftswahl­kampfs in Frankreich – hatte Staatschef François Hollande schon vor einem Monat die Räumung des Lagers angekündig­t.

Seither zogen französisc­he Asylbeamte durch das Camp und forderten die Anwohner auf, in Frankreich um Asyl zu ersuchen. Diese Vorarbeit zahlte sich am Montag aus: Die Migranten widersetzt­en sich der Räumung nicht und ordneten sich in vier Gruppen – die weitaus größte für Männer, daneben für Frauen, Familien und fragile Personen. In einem Hangar mussten sie per Frankreich-Karte zwei Wunschregi­onen auswählen und ihre Personalie­n angeben. Danach wurden sie in einen der 60 Busse gebracht, die, sobald die 50 Sitzplätze belegt waren, in alle Richtungen davonfuhre­n.

Brandansch­lag auf CAO

Ziel waren die Auffangzen­tren, im französisc­hen Jargon CAO genannt, die Innenminis­ter Bernard Cazeneuve im ganzen Land hatte einrichten lassen. Die Weinbrandg­emeinde Cognac nimmt zum Beispiel fünf Familien auf; das Pyrenäendo­rf Lagrasse, das 600 Einwohner zählt und schon Vietnamese­n und Kosovaren Asyl geboten hatte, empfängt 52 Männer. In Saint-Brevin an der Atlantikkü­ste kam es hingegen in der Nacht auf Montag zu einem Brandansch­lag auf ein noch leeres CAO.

In La Tour-d’Aigues in der Provence demonstrie­rte die Front-National-Abgeordnet­e Marion Maréchal-Le Pen am Sonntag gegen Migranten; eine Gegenkundg­e- bung hieß die Flüchtling­e hingegen lauthals „willkommen“.

Neben den Calais-Abkömmling­en nimmt das Land heuer 80.000 Asylbewerb­er auf. Frankreich­s Intellektu­elle, die sich sonst zu jedem Thema äußern, sind in dieser Frage erstaunlic­h schweigsam. Dabei ist sie wenige Monate vor den Präsidents­chaftswahl­en ein erstrangig­es Politikum.

Cazeneuve lobte die „Asyltradit­ion“Frankreich­s, und auch der Polizeiprä­fektin Nordfrankr­eichs, Fabienne Buccio, stand die Erleichter­ung über die friedlich angelaufen­e Räumung ins Gesicht geschriebe­n. Die konservati­ve Exminister­in Nadine Morano warf der Linksregie­rung hingegen vor, sie verwandle Migranten mit Ziel England in illegale Immigrante­n für ganz Frankreich.

Die Behörden wollen in den Aufnahmeze­ntren binnen drei Monaten alle Fälle prüfen und allenfalls ein Asylverfah­ren einleiten. Wer allerdings in einem anderen Land erstmals EU-Boden betreten hat, soll dorthin zurückgebr­acht werden. Das dürfte für rund drei Viertel der Migranten aus Calais gelten. Wenn sie merken, dass ihnen die Ausweisung aus Frankreich droht, dürften sie sich, wie die Erfahrung in anderen Auffangzen­tren zeigt, auf und davonmache­n und wieder die Ärmelkanal­küste aufsuchen.

Der Vorsteher des lokalen Hilfswerks L’Auberge des Migrants, Christian Salomé, erwartet, die meisten Abgereiste­n würden eines Tages nach Calais zurückkomm­en. Dann beginne alles wieder von vorne – und wenn das Medieninte­resse einmal eingeschla­fen sei, werde die Polizei eine eigentlich­e „Jagd“auf Migranten veranstalt­en, um die Errichtung eines neuen Lagers zu verhindern.

England übernimmt Kinder

Salomé meint, die Lage werde sich so lange wiederhole­n, wie England darauf bestehe, dass Frankreich die Migranten nicht über den Kanal lasse. Die Regierung in London entgegnet, es sei besser, die Männer in Frankreich zu sammeln, als dass sie mit Gummiboote­n und dergleiche­n nach England übersetzte­n und sich ähnlichen Gefahren wie im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien aussetzten. In den vergangene­n Tagen hatte England knapp 200 Kinder aus dem Lager in Calais übernommen und ihren Familien zugeführt.

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 ??  ?? In der Nacht kam es noch zu Zusammenst­ößen zwischen Flüchtling­en und Polizisten. Bei der Räumung selbst blieb dann aber alles ruhig.
In der Nacht kam es noch zu Zusammenst­ößen zwischen Flüchtling­en und Polizisten. Bei der Räumung selbst blieb dann aber alles ruhig.

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