Räumung von Calais begann ruhig
Tausende Flüchtlinge haben am Montag das Lager in Calais verlassen und werden nun auf das ganze Land verteilt. Und dann? Dann könnten sie bald wieder zurückkehren.
Die Räumung des Flüchtlingslagers im nordfranzösischen Calais hat am Montag ruhig und ohne Probleme begonnen. Die ersten paar Tausend der insgesamt etwa 6500 Migranten des sogenannten „Dschungels“wurden mit Bussen in Unterkünfte in ganz Frankreich gebracht. In der Nacht war es noch zu Unruhen gekommen.
Endlich bewegte sich etwas im „Dschungel“. Viele der Sudanesen und Eritreer, Afghanen und Iraker wirkten fast erleichtert, als sie ihre Zelte und Hütten am Montagmorgen zum letzten Mal verließen, um sich auf eine Busreise ins Unbekannte zu begeben. In der Warteschlange erklärte ein Afrikaner, er sei „zufrieden mit Frankreich und sehr unzufrieden mit England“.
An sich wollten die offiziell etwa 6500 Flüchtlinge und Migranten von dem Sanddünen-Slum nach England übersetzen, wo sie sich sprachlich, familiär und für die Arbeitssuche besser aufgehoben wähnen. In letzter Zeit war es aber immer schwieriger geworden, als blinder Passagier per Sattelschlepper und Fährschiff über den Ärmelkanal zu gelangen. Wegen der unwürdigen Bedingungen – und des einsetzenden Präsidentschaftswahlkampfs in Frankreich – hatte Staatschef François Hollande schon vor einem Monat die Räumung des Lagers angekündigt.
Seither zogen französische Asylbeamte durch das Camp und forderten die Anwohner auf, in Frankreich um Asyl zu ersuchen. Diese Vorarbeit zahlte sich am Montag aus: Die Migranten widersetzten sich der Räumung nicht und ordneten sich in vier Gruppen – die weitaus größte für Männer, daneben für Frauen, Familien und fragile Personen. In einem Hangar mussten sie per Frankreich-Karte zwei Wunschregionen auswählen und ihre Personalien angeben. Danach wurden sie in einen der 60 Busse gebracht, die, sobald die 50 Sitzplätze belegt waren, in alle Richtungen davonfuhren.
Brandanschlag auf CAO
Ziel waren die Auffangzentren, im französischen Jargon CAO genannt, die Innenminister Bernard Cazeneuve im ganzen Land hatte einrichten lassen. Die Weinbrandgemeinde Cognac nimmt zum Beispiel fünf Familien auf; das Pyrenäendorf Lagrasse, das 600 Einwohner zählt und schon Vietnamesen und Kosovaren Asyl geboten hatte, empfängt 52 Männer. In Saint-Brevin an der Atlantikküste kam es hingegen in der Nacht auf Montag zu einem Brandanschlag auf ein noch leeres CAO.
In La Tour-d’Aigues in der Provence demonstrierte die Front-National-Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen am Sonntag gegen Migranten; eine Gegenkundge- bung hieß die Flüchtlinge hingegen lauthals „willkommen“.
Neben den Calais-Abkömmlingen nimmt das Land heuer 80.000 Asylbewerber auf. Frankreichs Intellektuelle, die sich sonst zu jedem Thema äußern, sind in dieser Frage erstaunlich schweigsam. Dabei ist sie wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen ein erstrangiges Politikum.
Cazeneuve lobte die „Asyltradition“Frankreichs, und auch der Polizeipräfektin Nordfrankreichs, Fabienne Buccio, stand die Erleichterung über die friedlich angelaufene Räumung ins Gesicht geschrieben. Die konservative Exministerin Nadine Morano warf der Linksregierung hingegen vor, sie verwandle Migranten mit Ziel England in illegale Immigranten für ganz Frankreich.
Die Behörden wollen in den Aufnahmezentren binnen drei Monaten alle Fälle prüfen und allenfalls ein Asylverfahren einleiten. Wer allerdings in einem anderen Land erstmals EU-Boden betreten hat, soll dorthin zurückgebracht werden. Das dürfte für rund drei Viertel der Migranten aus Calais gelten. Wenn sie merken, dass ihnen die Ausweisung aus Frankreich droht, dürften sie sich, wie die Erfahrung in anderen Auffangzentren zeigt, auf und davonmachen und wieder die Ärmelkanalküste aufsuchen.
Der Vorsteher des lokalen Hilfswerks L’Auberge des Migrants, Christian Salomé, erwartet, die meisten Abgereisten würden eines Tages nach Calais zurückkommen. Dann beginne alles wieder von vorne – und wenn das Medieninteresse einmal eingeschlafen sei, werde die Polizei eine eigentliche „Jagd“auf Migranten veranstalten, um die Errichtung eines neuen Lagers zu verhindern.
England übernimmt Kinder
Salomé meint, die Lage werde sich so lange wiederholen, wie England darauf bestehe, dass Frankreich die Migranten nicht über den Kanal lasse. Die Regierung in London entgegnet, es sei besser, die Männer in Frankreich zu sammeln, als dass sie mit Gummibooten und dergleichen nach England übersetzten und sich ähnlichen Gefahren wie im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien aussetzten. In den vergangenen Tagen hatte England knapp 200 Kinder aus dem Lager in Calais übernommen und ihren Familien zugeführt.