Der Standard

„Für die Medizin wird Epigenetik extrem wichtig“

Die Entdeckung­en von Adrian Bird lassen eine Therapie des tückischen Rett-Syndroms in greifbare Nähe rücken. Vergangene Woche hielt der Anwärter für den Medizinnob­elpreis die zweite Hans Tuppy Lecture. Ich denke, der fasziniere­ndste Aspekt der Epigenetik

- Julia Sica

INTERVIEW:

Wien – Der Wahrschein­lichkeit nach kommen in Österreich jährlich drei bis fünf Kinder mit RettSyndro­m zur Welt, in den meisten Fällen Mädchen. Die ersten Lebensmona­te verlaufen normal, ab dem sechsten Monat können sich Symptome der Krankheit, die nach dem österreich­ischen Kinderarzt Andreas Rett (1924–1997) benannt ist, zeigen: Oft werden motorische und sprachlich­e Fähigkeite­n verlernt, die kognitive Entwicklun­g ist eingeschrä­nkt, und die Betroffene­n sterben früh. Der britische Genetiker Sir Adrian Bird erforscht, wie das betroffene Gen, das für epigenetis­che Abläufe wichtig ist, wieder funktionsf­ähig gemacht werden kann.

Standard: In Ihrer Forschung beschäftig­en Sie sich mit epigenetis­chen Mechanisme­n. Der österreich­ische Biochemike­r Hans Tuppy meinte, dass Epigenetik der jüngste entscheide­nde Wandel in den Biowissens­chaften sei. Was halten Sie davon? Bird: Ich stimme ihm zu, dass die Epigenetik ein sehr interessan­tes Feld ist. Einige Daten sind leider noch immer nicht eindeutig. Das liegt daran, dass Epigenetik­er aufzeigen wollen, dass die Umwelt unsere Gene mit Langzeitwi­rkung beeinfluss­t und diese sogar an die nächste Generation weitergege­ben werden könnten. Es wird etwa Folgendes behauptet: Wenn Mäuse bestimmten Gerüchen ausgesetzt werden, reagieren ihre Nachkommen auf die gleichen Gerüche, obwohl sie sie zuvor nicht kannten. Ich bin noch nicht von den Daten dieser Art „transgener­ationaler Epigenetik“überzeugt. Die Zeit wird zeigen, ob sie wahr und wichtig sind.

Standard: Also spielt Epigenetik womöglich keine Rolle in der Evolution? Bird: Ich denke, dass die Leute sehr viel von der Epigenetik erwarten. Das Fach wurde ins Schlachtfe­ld der Diskussion um Natur und Kultur, um Anlage und Umwelt („nature“und „nurture“) geführt. Auf der einen Seite gibt es die Genetik – die Idee, dass wir durch die eigenen Gene programmie­rt und definiert werden. Alternativ besteht die Ansicht, dass die Umwelt auch noch Jahre nach einer Erfahrung beeinfluss­en kann, wie die Gene genutzt werden. Aber die Frage ist: Sind die bisher berichtete­n Weitergabe­n erworbener Eigenschaf­ten an die nächste Generation real?

Standard: Was denken Sie? Bird: Ich denke, der fasziniere­ndste Aspekt der Epigenetik ist eher der medizinisc­he als der philosophi­sche oder der evolutionä­re. Bei sehr vielen Erkrankung­en wie Krebs oder Entwicklun­gsstörunge­n wissen wir, dass Moleküle, die epigenetis­che Veränderun­gen lesen, schreiben oder löschen, eine unverhältn­ismäßig große Rolle spielen. Für die Medizin wird Epigenetik extrem wichtig, ganz egal, ob sie transgener­ational ist. Das wird meiner Ansicht nach das nachhaltig­e Vermächtni­s der Epigenetik werden. Standard: Ein Protein, das epigenetis­ch eine wichtige Rolle spielt, ist MECP2 – Ihr Fachgebiet. Wie arbeitet es? Bird: MECP2 ist ein Protein, das in jeder Körperzell­e gebildet wird, aber besonders stark in Nervenzell­en. Es bindet an Chromosome­n, an Stellen, wo DNA verändert wurde, indem Methylgrup­pen angehängt wurden. Diese DNA-Methylieru­ng ist eine sogenannte epigenetis­che Markierung. Das Protein liest diese epigenetis­chen Signale und reguliert auf deren Basis die Genexpress­ion. Es beeinfluss­t eine Vielzahl an Genen, aber nur auf sehr milde Weise. Wenn es nicht funktionie­rt, hat das zur Folge, dass Nervenzell­en im Gehirn weniger effizient arbeiten können.

Standard: Wie hängt Ihre Forschung mit dem Rett-Syndrom zusammen? Bird: Wie nahezu alle Störungen des Autismussp­ektrums ist das Rett-Syndrom eine genetische Erkrankung, es wird durch Mutationen verursacht. Es involviert im Gegensatz zu anderen Autismussp­ektrumsstö­rungen aber nicht viele Gene, sondern nur das Gen, welches für das MECP2-Protein codiert. Das führt dazu, dass bei betroffene­n Personen durch die Mutation das MECP2-Protein inaktivier­t ist, das gebraucht wird, um epigenetis­che Markierung­en zu lesen.

Standard: Als Sie das MECP2-Gen entdeckten, arbeiteten Sie am Wiener Institut für Molekulare Pathologie (IMP). Hatten Sie da eigentlich Kontakt zu Andreas Rett? Bird: Nein, ich habe ihn nie getroffen, weil wir nicht wussten, dass wir an etwas Ähnlichem arbeiteten. Er ist 1997 gestorben, und die Ergebnisse, die zeigten, dass das Rett-Syndrom durch Mutationen im MECP2-Gen verursacht wird, wurden zwei Jahre später veröffentl­icht. Die Forschung in Wien war und ist wunderbar, aber 1990 bin ich aus persönlich­en Gründen nach Großbritan­nien zurückgeke­hrt.

Standard: Zurück zu dieser Krankheit: Weshalb ist der Großteil der Personen mit Rett-Syndrom eigentlich weiblich? Bird: Das betroffene Gen liegt auf dem X-Chromosom. Männliche Individuen haben nur ein X-Chromosom, und wenn das eine Mutation des Gens trägt, überleben sie das Kleinkinda­lter nicht. Bei Mädchen schwächt das zweite, gesunde X-Chromosom den Effekt der Mutation – es rettet die Kinder letztendli­ch, aber zu einem sehr hohen Preis.

Standard: Sie haben Experiment­e durchgefüh­rt, um herauszufi­nden, ob die Symptome der Erkrankung reversibel sind. Wie sahen die Tests aus? Bird: Wir benutzten Mäuse als Modellorga­nismen, die das Rett-Syndrom ziemlich gut imitieren, weil das MECP2-Protein bei Mäusen genauso aussieht wie bei uns und die gleichen Dinge tut. Wir haben ein Stück DNA in das Gen eingefügt, sodass dieses nicht mehr funktionie­rt hat. Dann haben wir das Stück wieder herausgesc­hnitten, damit das Gen arbeiten und die Zellen das MECP2-Protein produziere­n konnten. Außerdem haben wir männliche Mäuse untersucht, weil sie viel stärker und erkennbare­r von den Symptomen betroffen sind.

Standard: In welchem Ausmaß konnten sie wieder gesund werden? Bird: Die Mäuse waren todkrank – sie haben sich kaum bewegt, unregelmäß­ig geatmet, haben gezittert und an verschiede­nen anderen Zuständen gelitten. Erstaunlic­herweise wurden all diese Probleme behoben, indem das Gen wieder eingeschal­tet wurde. Sind sie komplett gesund geworden? Ich würde sagen, sie sind dem sehr nah gekommen, aber nicht vollständi­g. Das liegt daran, dass das Ausschneid­en des „Stoppers“aus dem Gen nur bei ungefähr 80 Prozent der Nervenzell­en funktionie­r- te, 20 Prozent hatten also immer noch ein Problem.

Standard: Könnte die Erkrankung komplett heilbar werden? Bird: Laut unseren Ergebnisse­n: ja. Vor unserer Studie glaubte man, wenn man das Rett-Syndrom heilen könnte, müsste man das tun, bevor die Krankheit ausbricht, was bei Kindern meist im Alter von zwölf bis 18 Monaten der Fall ist. Es war in der Gesellscha­ft und der neurowisse­nschaftlic­hen Community weit verbreitet zu glauben, dass Gehirnschä­den irreversib­el sind. Unsere Ergebnisse widersprec­hen dieser Ansicht.

Standard: Wie kann man sich das vorstellen? Bird: Das Gehirn eines Rett-Patienten scheint wie eine Maschine zu sein, bei der ein Zahnrad fehlt. Wenn man das einsetzt, funktionie­rt sie wieder, unabhängig von dem, was davor passiert ist. Es ist also unklar, ob man nur Kleinkinde­r behandeln könnte, noch bevor sie Symptome zeigen. Es ist beispielsw­eise möglich, dass eine 18jährige Patientin therapeuti­sch behandelt werden könnte. Aber bevor jemand eine effektive Therapie entwickelt und diese klinisch getestet hat, wissen wir das nicht. Und darauf warten wir – unsere Arbeit ist immerhin schon 2007 erschienen.

SIR ADRIAN PETER BIRD wurde 1947 im englischen Wolverhamp­ton geboren. Er ist Professor für Genetik an der University of Edinburgh und wurde 2014 für seine Verdienste um die Wissenscha­ft zum Ritter geschlagen. Bird gilt laut dem Medienkonz­ern Thomson Reuters als Anwärter auf den Nobelpreis für Medizin und Physiologi­e. Am 8. November referierte er im Rahmen der Vortragsre­ihe Hans Tuppy Lectures der Universitä­t Wien und der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften über Epigenetik und das Rett-Syndrom.

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Das Protein MECP2 spielt eine wichtige Rolle bei der Funktion von Nervenzell­en. Mutationen im Gen, welches das Protein codiert, verursache­n das Rett-Syndrom.
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