Dummheit, Falschheit und Faschismus
Was der Schriftsteller Ödön von Horváth hinter den Masken seiner oft kleinbürgerlichen Figuren fand, berührt auch noch fast 80 Jahre nach seinem Tod. Grazer Germanisten arbeiten an einer kritischen Gesamtausgabe.
Graz – Die Geschichten aus dem Wiener Wald sind ein starkes Stück. Im November 1931 wurde Ödön von Horváths erfolgreichstes Bühnenwerk in Berlin uraufgeführt und innerhalb zweier Monate achtundzwanzigmal wiederholt. Die österreichische Erstaufführung fand 17 Jahre später statt und wurde zum Skandal. Was das Wiener Publikum so empörte, hatte schon 1931 in Berlin für Widerwillensbekundungen in der rechten Presse gesorgt: Man wolle nicht dabei zusehen, hieß es dort etwa, wie das „goldene Wiener Herz rettungs- und hilflos in der Horváthschen Jauche ersoff“.
In der Folge wurden nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 an deutschen Bühnen alle Stücke Horváths abgesetzt. Was löste diese Abscheu aus? Ödön von Horváth schrieb seine Theaterstücke und Romane in einer Zeit extremer Arbeitslosigkeit und des erstarkenden Faschismus. „Seine Figuren erkennen, dass man sich zum Überleben in der modernen Gesellschaft Masken zulegen muss“, sagt Klaus Kastberger, Leiter des Grazer Literaturhauses und des Franz-NablInstituts für Literaturforschung an der Universität Graz.
„Es gibt keine Echtheit – nicht einmal im Innenleben der Figu- ren“, so der Germanist. „Sie empfinden sich selbst als menschlich und moralisch, hinter ihren Masken erkennt man aber die Bösartigkeit“– und eine erschreckende Dummheit, die sich mit Melancholie und Sentimentalität paart.
Horváths Bühnen- und Romanfiguren sind Kleinbürger in existenziell bedrohlicher Situation: Sie haben die Verheerungen des Ersten Weltkriegs erfahren, und nun, in der Wirtschaftskrise der späten 1920er, müssen sie wieder ums Überleben kämpfen. Das bringt hässliche Charakterzüge zum Vorschein, die in der nationalsozialistischen Ideologie ihren realpolitischen Ausdruck finden.
Dass Horváths Dramen bis heute aufgeführt werden und noch immer schmerzhaft treffen, habe damit zu tun, „dass in ihnen viel mehr steckt als simple politische Haltungen“, sagt Kastberger. So habe der 1901 geborene österrei- chisch-ungarische Autor an den Geschichten aus dem Wiener Wald mehrere Jahre gearbeitet, bis es schließlich zu dem intensiven und zeitlosen Stück geworden ist, das wir heute kennen. „An diesem Drama kann man nachvollziehen, wie sich Horváth immer weiter vom anfangs explizit politischen, im Brecht’schen Denken verhafteten Stil entfernte“, erklärt der Germanist. „Politische beziehungsweise parteipolitische Aussagen und Passagen hat er zusehends aus dem Text entfernt.“An die 1000 Seiten umfassen die verschiedenen Versionen.
Im Rahmen ihrer Arbeit an einer historisch-kritischen Horváth-Gesamtausgabe haben Kastberger und sein Team das gesamte Material chronologisch geordnet und kommentiert. An den verschiedenen Fassungen kann man die künstlerische Entwicklung Horváths ablesen: So kommt in älteren Versionen etwa der Antisemitismus noch in eher plakativen Äußerungen vor, während er in späteren sehr viel subtiler in der autoritären, machistischen Grundstimmung des Stücks mitschwingt. „Indem er die starken zeithistorischen Bezüge seiner Stücke bewusst lockert, können sie auch heute noch aufgeführt werden“, sagt Kastberger.
Tieferes Verständnis
Elf der 18 geplanten Bände dieses vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Langzeitprojekts sind schon erschienen, einer wird gerade publiziert. „Zurzeit arbeiten wir an einem Band mit Horváths Lebensdokumenten“, berichtet der Literaturwissenschafter. Darunter sind etwa Briefe, Fotos, Notizen, Akten und sogar Kinderzeichnungen. „Da er weder ein Tagebuch führte noch theoretische Überlegungen zu seinen Texten niederschrieb, manifestiert sich seine literarische Entwicklung vor allem in den Werken selbst.“Deshalb ist gerade bei Horváth eine textgenetische Aufarbeitung seiner 21 Dramen, fünf Romane und sonstigen Prosatexte besonders aufschlussreich und ermöglicht ein tieferes Verständnis seiner Werke.
Davon profitieren neben Literaturwissenschaftern, Studierenden und Schülern auch Dramaturgen und Regisseure. So stützte sich etwa Frank Castorfs aufse- henerregende Inszenierung von Kasimir und Karoline 2011 auf diese Wiener Ausgabe.
Ödön von Horváth hat für seine Figuren vor allem an den sogenannten kleinen Leuten Maß genommen. „Aber er hat ihnen nicht nur ‚aufs Maul geschaut‘ und das Gehörte eins zu eins niedergeschrieben“, betont Kastberger. „Gerade das scheinbar Einfache ist bei ihm sehr konstruiert.“Zwischen erstem Entwurf und Endfassung liegt bei Horváth oft ein weiter Weg. Das wird in seinen Textbearbeitungen sichtbar. „Horváth war ein Monteur: Oft hat er Textteile ausgeschnitten und an anderen Stellen wieder eingeklebt.“
So bekommen die Geschichten aus dem Wienerwald im Zuge mehrerer Überarbeitungen eine zunehmend schachtelartige Struktur, in der sich die geschlossenen Welten der Figuren spiegeln. Aus dieser Existenz gibt es bei Horváth kein Entkommen. Die Brutalität und Ausweglosigkeit des KleineLeute-Lebens und -Denkens in Krisenzeiten zeigt sich natürlich auch, aber eben nicht nur auf der sprachlichen Ebene: „Du wirst meiner Liebe nicht entgehen“, sagt etwa der von Marianne einst verschmähte Fleischer Oskar in den Geschichten aus dem Wiener Wald, ein genial konstruierter Satz – wie ein Fleischermesser mit Zuckerguss.
In einigen Wochen soll mit den Geschichten aus dem Wiener Wald der erste Teil einer digitalen Ausgabe als Open-Access-Publikation online gehen. Einige kommentierte Reclam-Bände für den Schulgebrauch wurden im Rahmen des Projekts bereits publiziert.