Der Standard

„Wir tragen da ein historisch­es Packerl“

Die neue Regierung Estlands kümmert sich auch um die russische Minderheit, sagt die Politologi­n Kristina Kallas. Eine neue Außenpolit­ik erwartet sie nicht.

- INTERVIEW: Gerald Schubert Foto: privat

Standard: In Estland stellt mit Jüri Ratas seit voriger Woche die Zentrumspa­rtei den Premiermin­ister. Sie ist auch bei der russischen Minderheit sehr beliebt. Gibt es nun in Osteuropa eine weitere prorussisc­he Regierung? Kallas: Überhaupt nicht. Zwar hat der ehemalige Chef der Zentrumspa­rtei, Edgar Savisaar, mit der Partei von Wladimir Putin zusammenge­arbeitet, um die Stimmen der russischsp­rachigen Bevölkerun­g Estlands zu bekommen. Doch die Regierungs­beteiligun­g der Zentrumspa­rtei wurde erst möglich, als er als Parteichef abgelöst wurde. Nur einen Tag danach stürzte die alte Regierung unter der Führung der (liberalen, Anm.) Reformpart­ei. Ich glaube, Sozialdemo­kraten und Konservati­ve haben jahrelang nur darauf gewartet, endlich eine Koalition mit der Zentrumspa­rtei bilden zu können.

Standard: Warum diese rasante Abkehr von der Reformpart­ei? Kallas: Sie war 17 Jahre lang an der Macht, viele waren unzufriede­n. Das begann schon mit der Wirtschaft­s- und Finanzkris­e. Das Problem für ihre beiden Koalitions­partner war aber, dass sie keine Alternativ­e hatten, eine andere Regierung zu bilden. Denn die Zentrumspa­rtei, die die größte Opposition­skraft war, hatte mit Savisaar einen Vorsitzend­en, mit dem niemand kooperiere­n wollte.

Standard: Wegen der Verbindung­en Savisaars zu Russland? Kallas: Zum Teil, aber der Hauptgrund war die Korruption. Savisaar war bereit, mit jedem einen Deal zu schließen, der seine Wahlchance­n erhöht. Hinter Savisaars Kooperatio­n mit Russland standen keine prinzipiel­len weltanscha­ulichen Ideen. In der Gesellscha­ft gibt es insgesamt die stark ausgeprägt­e Meinung, dass die Be- ziehungen zu Russland von Vorsicht geprägt sein müssen. Wir tragen da ein historisch­es Packerl. Auch in der Zentrumspa­rtei sind da die meisten vorsichtig.

Standard: Gilt das auch für die russischsp­rachige Minderheit im Land? Kallas: Nein, ich glaube, dort herrscht eine andere Meinung vor. Das ist auch verständli­ch. Die Vertreter der russischen Minderheit haben nicht diese historisch­e Wunde im Verhältnis zu Russland. Emotional sind sie in einer anderen Situation.

Standard: Etwa 30 Prozent der 1,4 Millionen Einwohner Estlands sind russischsp­rachig. Wie ist ihre Position im Land? Kallas: Lange Zeit waren sie ausgeschlo­ssen. Viele haben immer noch nicht die estnische Staatsbürg­erschaft, hier soll es nun Erleichter­ungen geben. Es gibt bei den Russen auch Unzufriede­nheit wegen ihrer schwächere­n Stellung am Arbeitsmar­kt oder wegen Problemen im Schulwesen. Nun kommen diese Dinge endlich auch im Koalitions­vertrag vor. Bezüglich Außen- und Sicherheit­spolitik hat sich aber nichts geändert.

Standard: Wie wird in Estland der Sieg Donald Trumps bei der USPräsiden­tschaftswa­hl wahrgenomm­en? Trump hat ja die künftige Unterstütz­ung für europäisch­e Nato-Partner relativier­t. Kallas: Für viele Esten ist der Wahlausgan­g besorgnise­rregend – wegen Trumps Statements über die Nato oder wegen Aussagen seines Unterstütz­ers (Newt Gingrich, Anm.), der gesagt hat, Estland sei eine Vorstadt von St. Petersburg.

KRISTINA KALLAS (40) ist Politologi­n und Direktorin des Narva College an der Universitä­t von Tartu, Estland.

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