„Wir haben eine klassische Reibebaumfunktion“
Jugendliche, die mit Extremismus sympathisieren, wollen provozieren oder Aufmerksamkeit. Der Wiener Sozialarbeiter Fabian Reicher setzt auf Dialog und will die Wut der Jugendlichen in Aufgaben kanalisieren.
STANDARD: Wie geht man als Sozialarbeiter damit um, wenn Jugendliche mit Extremismus in Verbindung gekommen sind? Reicher: Es ist in der Jugendphase durchaus normal im Prozess der Identitätsentwicklung, dass man mit Extremen sympathisiert und extreme Positionen einnimmt. Das kann verschiedene Ausprägungen haben, wie Extremsport, experimenteller Konsum von Alkohol – das ist in der Jugendphase normal. Deshalb sagen wir dazu „Jugendliche, die mit Extremismus sympathisieren“. Das Weltbild von Jugendlichen ist kein geschlossenes. Sie müssen ihren Selbstwert erst stabilisieren. Das passiert häufig über die Abwertung von anderen oder Gruppen.
STANDARD: Das heißt, es ist teilweise eine Form der Provokation? Reicher: Ja. Diese Provokationen sind auch ernst zu nehmen. Es steht ein Bedürfnis dahinter. Entweder ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder nach Grenzen. Da braucht es Erwachsene, die sich gegen diese extremistischen oder abwertenden Themen positionieren und das auch begründen. Wir treten mit den Jugendlichen in Diskurs und haben da eine klassische Reibebaumfunktion.
STANDARD: Wann geht es über eine jugendliche Provokation hinaus? Reicher: Gefährlich werden solche Fanatisierungsprozesse bei der Verengung des Blickwinkels. Wenn sich der Jugendliche in seiner Identität nur noch auf eine Sache bezieht, dann wird es problematisch. Wenn sie den Kontakt zu ihren Freunden, die nicht in der extremen Szene sind, abbrechen, nicht mehr mit den Eltern reden, nicht mehr zum Fußballverein gehen. Solche Veränderungen muss man immer ansprechen.
STANDARD: Wo setzt man bei diesen Jugendlichen an? Reicher: Unsere Methode ist die Bedürfnisorientierung. Jede Ideologie hat viele Angebote, etwa Gruppenzugehörigkeit, Aufwertung oder Protest. Diese Angebote befriedigen Bedürfnisse. Man kann die Ideologie brechen, wenn diese Bedürfnisse anders befriedigt werden. Unser Zugang ist, ihnen Angebote zu bieten.
STANDARD: Welche Angebote? Reicher: Zum Beispiel ehrenamtliches Engagement. Ich hatte einen Jugendlichen, der hat bereits mit dem Gedanken gespielt, nach Syrien zu gehen. Ich habe ihn gefragt: Warum? Er hat gesagt, es gab einen biografischen Bruch, weil er die ihm bereits versprochene Lehrstelle doch nicht bekommen hat. Die Eltern waren furchtbar enttäuscht. Gleichzeitig war er in Kontakt mit Propagandisten aus Syrien. Die haben ihn übers Internet kontaktiert und ihm gesagt: Du musst ja nicht kämpfen, du kannst auch armen Menschen helfen.
STANDARD: Wie haben Sie reagiert? Reicher: Ich habe ihm gesagt: „Arme Menschen haben wir in Österreich genug. Da musst du nicht nach Syrien fahren. Machen wir lieber da was.“Wir haben dann eine Möglichkeit gefunden, wie er sich ehrenamtlich engagieren konnte. Parallel dazu haben wir viel über die Ideologie gesprochen mit einem islamischen Seelsorger. Mit der Familie haben wir auch gearbeitet, erklärt, wie wichtig es ist, für ihn da zu sein, egal, wie viel Scheiße er gebaut hat.
STANDARD: Was lösen Hassvideos bei Jugendlichen aus? Reicher: Sie emotionalisieren unglaublich. Sie lösen auch eine berechtigte Wut aus. Der gemeinsa- me Nenner von Jihadisten ist die Entfremdung der Gesellschaft durch Diskriminierungserfahrungen. Propagandisten erzeugen Rache- und Gewaltfantasien. Mit dem Opfermythos, mit dem in den Videos gearbeitet wird, wird das ideologisiert. Aber dass Menschen in Syrien sterben, das ist ja real. Das brauche ich nicht beschwichtigen. Diese Wut brauche ich ihnen nicht wegnehmen, sondern mit ihnen aufarbeiten und ihnen helfen, die Wut zu kanalisieren. Wir finden Aufgaben für sie, die Gesellschaft zu verbessern, ohne dass sie auf Propagandisten hereinfallen.
Standard: Wie stoßen sie auf das Thema Extremismus? Reicher: Die Jugendlichen bestimmen, über was wir reden. Jetzt sind zum Beispiel die „Killerclowns“ein Thema. Das Jugendphänomen Pop-Jiihad hat in den letzten Jahren abgenommen. Die Jugendliche, die damit sympathisiert haben, interessiert das nicht mehr. Die haben coole Jobs, die erste Liebe und ihren Platz in der Gesellschaft gefunden. Das immunisiert gegenüber extremistische Ideologien. Armut, Perspektivenlosigkeit und Rassismus sind riesige Themen bei den Jugendlichen. Damit muss sich die Politik beschäftigen, ansonsten wird es immer Menschen geben, die anfällig für Sektierer und Propagandisten sind.
FABIAN REICHER (29) ist seit 2011 Sozialarbeiter bei der mobilen Jugendarbeit Back Bone 20, die im 20. Wiener Bezirk rund 500 Jugendliche betreut.