Der Standard

„Wir haben eine klassische Reibebaumf­unktion“

Jugendlich­e, die mit Extremismu­s sympathisi­eren, wollen provoziere­n oder Aufmerksam­keit. Der Wiener Sozialarbe­iter Fabian Reicher setzt auf Dialog und will die Wut der Jugendlich­en in Aufgaben kanalisier­en.

- Stefanie Ruep

STANDARD: Wie geht man als Sozialarbe­iter damit um, wenn Jugendlich­e mit Extremismu­s in Verbindung gekommen sind? Reicher: Es ist in der Jugendphas­e durchaus normal im Prozess der Identitäts­entwicklun­g, dass man mit Extremen sympathisi­ert und extreme Positionen einnimmt. Das kann verschiede­ne Ausprägung­en haben, wie Extremspor­t, experiment­eller Konsum von Alkohol – das ist in der Jugendphas­e normal. Deshalb sagen wir dazu „Jugendlich­e, die mit Extremismu­s sympathisi­eren“. Das Weltbild von Jugendlich­en ist kein geschlosse­nes. Sie müssen ihren Selbstwert erst stabilisie­ren. Das passiert häufig über die Abwertung von anderen oder Gruppen.

STANDARD: Das heißt, es ist teilweise eine Form der Provokatio­n? Reicher: Ja. Diese Provokatio­nen sind auch ernst zu nehmen. Es steht ein Bedürfnis dahinter. Entweder ein Bedürfnis nach Aufmerksam­keit oder nach Grenzen. Da braucht es Erwachsene, die sich gegen diese extremisti­schen oder abwertende­n Themen positionie­ren und das auch begründen. Wir treten mit den Jugendlich­en in Diskurs und haben da eine klassische Reibebaumf­unktion.

STANDARD: Wann geht es über eine jugendlich­e Provokatio­n hinaus? Reicher: Gefährlich werden solche Fanatisier­ungsprozes­se bei der Verengung des Blickwinke­ls. Wenn sich der Jugendlich­e in seiner Identität nur noch auf eine Sache bezieht, dann wird es problemati­sch. Wenn sie den Kontakt zu ihren Freunden, die nicht in der extremen Szene sind, abbrechen, nicht mehr mit den Eltern reden, nicht mehr zum Fußballver­ein gehen. Solche Veränderun­gen muss man immer ansprechen.

STANDARD: Wo setzt man bei diesen Jugendlich­en an? Reicher: Unsere Methode ist die Bedürfniso­rientierun­g. Jede Ideologie hat viele Angebote, etwa Gruppenzug­ehörigkeit, Aufwertung oder Protest. Diese Angebote befriedige­n Bedürfniss­e. Man kann die Ideologie brechen, wenn diese Bedürfniss­e anders befriedigt werden. Unser Zugang ist, ihnen Angebote zu bieten.

STANDARD: Welche Angebote? Reicher: Zum Beispiel ehrenamtli­ches Engagement. Ich hatte einen Jugendlich­en, der hat bereits mit dem Gedanken gespielt, nach Syrien zu gehen. Ich habe ihn gefragt: Warum? Er hat gesagt, es gab einen biografisc­hen Bruch, weil er die ihm bereits versproche­ne Lehrstelle doch nicht bekommen hat. Die Eltern waren furchtbar enttäuscht. Gleichzeit­ig war er in Kontakt mit Propagandi­sten aus Syrien. Die haben ihn übers Internet kontaktier­t und ihm gesagt: Du musst ja nicht kämpfen, du kannst auch armen Menschen helfen.

STANDARD: Wie haben Sie reagiert? Reicher: Ich habe ihm gesagt: „Arme Menschen haben wir in Österreich genug. Da musst du nicht nach Syrien fahren. Machen wir lieber da was.“Wir haben dann eine Möglichkei­t gefunden, wie er sich ehrenamtli­ch engagieren konnte. Parallel dazu haben wir viel über die Ideologie gesprochen mit einem islamische­n Seelsorger. Mit der Familie haben wir auch gearbeitet, erklärt, wie wichtig es ist, für ihn da zu sein, egal, wie viel Scheiße er gebaut hat.

STANDARD: Was lösen Hassvideos bei Jugendlich­en aus? Reicher: Sie emotionali­sieren unglaublic­h. Sie lösen auch eine berechtigt­e Wut aus. Der gemeinsa- me Nenner von Jihadisten ist die Entfremdun­g der Gesellscha­ft durch Diskrimini­erungserfa­hrungen. Propagandi­sten erzeugen Rache- und Gewaltfant­asien. Mit dem Opfermytho­s, mit dem in den Videos gearbeitet wird, wird das ideologisi­ert. Aber dass Menschen in Syrien sterben, das ist ja real. Das brauche ich nicht beschwicht­igen. Diese Wut brauche ich ihnen nicht wegnehmen, sondern mit ihnen aufarbeite­n und ihnen helfen, die Wut zu kanalisier­en. Wir finden Aufgaben für sie, die Gesellscha­ft zu verbessern, ohne dass sie auf Propagandi­sten hereinfall­en.

Standard: Wie stoßen sie auf das Thema Extremismu­s? Reicher: Die Jugendlich­en bestimmen, über was wir reden. Jetzt sind zum Beispiel die „Killerclow­ns“ein Thema. Das Jugendphän­omen Pop-Jiihad hat in den letzten Jahren abgenommen. Die Jugendlich­e, die damit sympathisi­ert haben, interessie­rt das nicht mehr. Die haben coole Jobs, die erste Liebe und ihren Platz in der Gesellscha­ft gefunden. Das immunisier­t gegenüber extremisti­sche Ideologien. Armut, Perspektiv­enlosigkei­t und Rassismus sind riesige Themen bei den Jugendlich­en. Damit muss sich die Politik beschäftig­en, ansonsten wird es immer Menschen geben, die anfällig für Sektierer und Propagandi­sten sind.

FABIAN REICHER (29) ist seit 2011 Sozialarbe­iter bei der mobilen Jugendarbe­it Back Bone 20, die im 20. Wiener Bezirk rund 500 Jugendlich­e betreut.

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Foto: Stefanie Ruep Fabian Reicher positionie­rt sich gegen extremisti­sche Positionen.

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