Lucy war eine Kletterkünstlerin
Dass Vormensch Lucy bereits aufrecht ging, ist mittlerweile unbestritten. Weniger klar war bisher allerdings, wie viel Zeit Australopithecus afarensis in den Bäumen zubrachte. Eine aktuelle Studie liefert dazu neue Hinweise.
Baltimore/Wien – Wann genau die Vorfahren des modernen Menschen von den Bäumen herabgestiegen sind und die Vorteile des aufrechten Gangs zu schätzen gelernt haben, ist unklar. Einige Funde weisen darauf hin, dass sich die Zweibeinigkeit vor rund sechs Millionen Jahren möglicherweise mehrfach unabhängig voneinander entwickelt haben könnte. Fest steht jedenfalls, dass Australopithecus afarensis vor 3,8 Millionen Jahren in Ostafrika bereits aufrecht ging.
Die besten Beweise dafür liefert Lucy. Das berühmte 3,18 Millionen Jahre alte AustralopithecusFossil wurde vor 42 Jahren in der äthiopischen Afar-Senke entdeckt und repräsentiert eines der ältesten und vollständigsten Skelette einer Angehörigen einer Vormenschenart. Ihre erhaltenen Beckenund Oberschenkelknochen sowie die Form des Fußbettes weisen nach übereinstimmender Ansicht darauf hin, dass Lucy sich auf zwei Beinen fortbewegte.
Offen ist dagegen die Frage, ob Lucy den Großteil ihrer Zeit auf dem Boden zubrachte oder immer noch die Bäume als Lebensraum bevorzugte. Einiges würde für Letzteres sprechen. So eignen sich beispielsweise die langen Arme von Australopithecus afarensis ausgezeichnet zum Schwingen durchs Geäst. Einige Paläontologen halten allerdings dagegen, dass dieses Merkmal nicht als Anpassung an die Lebensumstände zu deuten ist, sondern ein evolutionäres Überbleibsel darstellt.
Ein weiteres Indiz dafür, dass Lucy die Bäume zumindest noch nicht gänzlich aufgegeben hatte, lasen US-Forscher zuletzt aus den Brüchen an ihren Knochen. Wie John Kappelman von der Universität Texas in Austin Ende August im Fachblatt Nature schrieb, könnte sich Lucy diese bei einem tödlichen Sturz aus großer Höhe zugezogen haben. Der Befund ist jedoch umstritten, da die Knochenbrüche auch post mortem entstanden sein könnten.
Daher hat Kappelman nun gemeinsam mit einem Team um Christopher Ruff von der Johns Hopkins University in Baltimore einen alternativen Weg gewählt, um die Frage nach Lucys Lebensgewohnheiten zu klären. Die Wissenschafter nahmen sich dafür Lucys Gebeine mit modernster Technik vor und erstellten einen hochauflösenden CT-Scann ihres gesamten Skelettes.
Verräterische Knochen
Ihrer Analyse liegt zugrunde, dass sich Knochen mit den an sie gestellten Anforderungen allmählich verändern: Wo große Kräfte wirken, verstärkt sich ihr innerer Aufbau. Die im Fachjournal Plos One präsentierten Ergebnisse ergaben, dass Lucy tatsächlich viel Zeit in luftiger Höhe verbracht ha- ben muss. Besonders die Oberarme offenbarten eine Knochenstruktur, die jener von modernen Schimpansen gleicht. Die im Unterschied dazu weniger ausgeprägten Oberschenkel belegen, dass die meiste Kletterarbeit von den Vorderextremitäten verrichtet wurde. „Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass Lucys Gang wohl noch nicht so effizient war wie jener ihrer Nachfahren“, meint Ruff. „Dies dürfte ihren Bewegungsradius am Boden erheblich eingeschränkt haben.“
All das spricht dafür, dass Lucy zumindest die Nächte in Baumnestern zugebracht hat. Geht man von einer achtstündigen Nachtruhe aus, könnte Australopithecus afarensis also mehr als ein Drittel des Tages in den Bäumen geblieben sein, vermuten die Forscher.