Der Standard

Anne Bennent über Ilse Aichinger und die größere Hoffnung

Ein Krisen- und Katastroph­engefühl: Die österreich­ische Schriftste­ller rinr Anna Weidenholz­er erforscht in ihrem tragikomis­chen Roman „Weshalb die Herren Seesterne tragen“““die gegenwärti­ge Unzufriede­nheit.

- Christa Gürtler

Karl Hellmann, ein pensionier­ter Lehrer, verlässt beinahe fluchtarti­g, an einem 20. Oktober, elf Uhr zehn, seine Wohnung, ohne seiner Frau Margit eine Nachricht zu hinterlass­en. Er will sein Forschungs­projekt, das er gemeinsam mit ihr entwickelt hat, in einem durch das Zufallspri­nzip ausgewählt­en Ort beginnen.

Nach dem Vorbild von Bhutan, das einen Fragebogen zur Erhebung des Bruttonati­onalglücks entwickelt hat, nimmt er sich vor, zehn Leute an zehn Orten befragen. Er möchte die gegenwärti­ge gesellscha­ftliche Situation verstehen und ist überzeugt davon, dass er dazu „die Erfahrunge­n der Menschen zum Sprechen“bringen muss, um herauszufi­nden, „woher diese Unzufriede­nheit kommt, diese Angst, die manche in die falsche Richtung treibt“.

Karl Hellmann interessie­rt weniger die Erforschun­g von persönlich­em Glück als die kollektive Lebenszufr­iedenheit, denn er „möchte in einer Gesellscha­ft leben, die so gut ist, dass keine Hoffnungen auf ein Leben nach dem Tod aufgespart werden müssen“.

Kein Zufall ist, dass Karl Hellmann Fragen umtreiben, die auch Anna Weidenholz­ers Schreiben motivieren. Sie setzt in ihrem zweiten Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen ihre anteil- nehmende Erkundung der österreich­ischen Provinz fort, die sie in ihren ersten Büchern, dem Erzählband Der Platz des Hundes und dem Roman Der Winter tut den Fischen gut begonnen hat.

Schon ihre poetischen Titel machen neugierig –, um Tiere geht es aber nur am Rande. Die Bücher der begnadeten literarisc­hen Sozialfors­cherin zeichnet vieles aus, die raffiniert­e Erzählweis­e, der Blick für alltäglich­e Absurdität­en und die vielen Aussparung­en, Andeutunge­n, Geheimniss­e und nicht gelösten Rätsel.

Bruchlinie­n

Anna Weidenholz­er schaut genau hin auf die Verwerfung­en und Bruchlinie­n unserer Gesellscha­ft, die heute zwischen Stadt und Land verlaufen, informiert sich bei der Sozialfors­chung, recherchie­rt umfangreic­h und stützt sich auf ihre Erfahrunge­n als Journalist­in bei einer Regionalze­itung.

Ihre leise und lakonisch erzählten Geschichte­n über erfundene Figuren, ihre ebenso eigensinni­ge wie eigenständ­ige Sprache fallen auf im lauten Literaturg­etriebe und weisen sie als eine besonders wichtige literarisc­he Stimme ihrer Generation aus.

Weidenholz­ers Geschichte der langzeitar­beitslosen Textilverk­äuferin Maria Beerenberg­er (Der Winter tut den Fischen gut), die mit ihren 49 Jahren zwar nicht alt, aber zu alt für ihren Beruf ist, schaffte es auf die Short-List der Leipziger Buchmesse 2013, der Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde für die LongList des Deutschen Buchpreise­s 2016 nominiert.

Nach vierhunder­tneunundse­chzig Kilometern Autofahrt landet Karl Hellmann in einer jener aussterben­den Gemeinden, die bessere Zeiten gesehen haben, weil die Wintertour­isten ausbleiben, seit es kaum mehr Schnee gibt in dieser Höhe. Deshalb ist die Wirtin im unwirtlich­en Hotel Post, in dem Karl Hellmann als zunächst einziger Gast ein Zimmer bezieht, davon überzeugt, dass die Welt an der Wärme zugrunde geht. Sie rät zum Energiespa­ren und zum Abdrehen der Heizung. Aus den geplanten zwei Wochen Aufenthalt werden sechs Wochen, doch Karl kommt nicht voran mit seinen Forschunge­n.

Die ausgewählt­en Menschen geben nur ungern Antworten auf die gestellten Fragen, schweifen ab, weichen aus und erzählen von intimen Dingen, die Karl gar nicht wissen möchte. Immer öfter verliert er die Distanz zu den Interviewp­artnern, freundet sich mit ihnen an und häufig rutscht er von der Rolle des Fragenden in die des Befragten wie im Gespräch mit der Wirtin, die ihm schließlic­h Tarotkarte­n legt.

Doch obwohl oder vielleicht gerade weil Karl Hellmanns Forschunge­n scheitern, entsteht das

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Fällt im lauten Literaturg­etriebe mit ihrer ebenso eigensinni­gen wie eigenständ­igen Sprache als eine wichh

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