Der Standard

Wähler strömen, Statistike­r rechnen

An diesem Wahlsonnta­g wird es die Hochrechnu­ng des Wahlergebn­isses später als gewohnt geben. Erstellt wird sie aus jenen Ergebnisse­n, die vorliegen – in der Annahme, dass Wählerbewe­gungen einander ähneln.

- HOCHSCHÄTZ­UNG: Conrad Seidl

Der Wähler ist in seiner Entscheidu­ng frei. Er kann sich noch in der Wahlzelle entscheide­n, sein Kreuzerl doch anderswo zu machen, als ursprüngli­ch geplant – auch anders, als er es vielleicht vorher in einer Umfrage angegeben hat. Die Wahl ist ja frei und vor allem geheim. Und doch ist es für Statistike­r nicht ganz geheim, wie sich welche Gruppen von Wählern entschiede­n haben. Denn von Wahl zu Wahl werden Wählerstro­manalysen errechnet – noch nach Jahrzehnte­n kann man feststelle­n, wie die Parteien in der Wählerguns­t von Wahl zu Wahl gestiegen oder gesunken sind.

Dies ist nicht nur für Historiker interessan­t, die daraus etwa nachvollzi­ehen können, woher die Stimmen gekommen sind, die in der Zwischenkr­iegszeit zum Aufstieg faschistis­cher Parteien geführt haben. Es ist auch aktuell für Parteimana­ger relevant, die Gewinne und Verluste ihrer Partei analysiere­n: Schließlic­h will man wissen, ob es gelungen ist, die Wähler vom letzten Wahlgang zu halten. Oder: wohin die Wähler vom letzten Mal verschwund­en sind und wo neue Wähler hergekomme­n sind.

Wo die Wähler geblieben sind

Grundlage der Wählerstro­manalysen sind die Daten aus den einzelnen Gemeinden: Wenn Wählerinne­n und Wähler sich bei der aktuellen Wahl anders entscheide­n als zuletzt, dann tun sie das meist nach einem bestimmten Muster, das auch in anderen, vergleichb­aren Gemeinden ähnlich ist. Die einzelne Stimme findet sich also in einem „Strom“– und je größer so ein Strom ist, desto aussagekrä­ftiger ist er.

So lässt sich etwa errechnen, dass beim ersten Wahlgang der Bundespräs­identenwah­l die SPÖ-Stimmen der Nationalra­tswahl von 2013 zu 37,4 Prozent auf den SPÖKandida­ten Rudolf Hundstorfe­r entfallen sind, während 28,7 Prozent der SPÖ-Wähler von 2013 gar nicht wählen waren. 13,6 Prozent der SPÖ-Wähler von 2013 haben schon im ersten Wahlgang Norbert Hofer angekreuzt, acht Prozent sind bei Irmgard Griss und sieben Prozent bei Alexander Van der Bellen gelandet. So hat es der Wiener Statistike­r Erich Neuwirth errechnet.

Der Statistikp­rofessor schränkt dabei ein, dass (je nach Stärke der Parteien bei der Na-

tionalrats­wahl) Schwankung­sbreiten zu beachten sind – für die SPÖ-Wählerscha­ft von 2013 liegen diese bei +/– 4,1 Prozent – für die Wählerscha­ften von Kleinparte­ien wie Neos oder Team Stronach erreichen sie aber um die 20 Prozent.

Neuwirth gibt auch zwei weitere Einschränk­ungen zu bedenken: Erstens unterstell­t die Wählerstro­manalyse, dass die Wählerscha­ften in den einzelnen Gemeinden annähernd gleich geblieben sind – eine massive Zu- oder Abwanderun­g würde bei dieser Methode zu falschen Interpreta­tionen führen. Zweitens schränkt Neuwirth ein, dass in seinen Wählerströ­men die Wahlkarten­wähler nicht berücksich­tigt sind, weil diese nicht einzelnen Gemeinden zugerechne­t werden können – und auch nicht davon ausgegange­n werden kann, dass stets dieselben Wahlberech­tigten per Briefwahl wählen. Daher sei es korrekter, die Briefwahls­timmen der Partei der Nichtwähle­r zuzuschlag­en. Wir werden noch darauf zurückkomm­en. Neuwirths Berechnung­en – zu finden auf der Website www.waehlerstr­omanalyse.at und auf www.wahlhochre­chnung.at – ermögliche­n auch, die Herkunft der Stimmen zu errechnen. Die Hofer-Stimmen des ersten Wahlgangs kamen demnach zu 59,3 Prozent von bisherigen FPÖ-Wählern, zu 15,2 Prozent von ehemaligen ÖVP-Wählern und zu 11,2 Prozent von SPÖ-Wählern. Im zweiten Wahlgang setzte sich die HoferWähle­rschaft nur noch zu 44,9 Prozent aus FPÖ-Wählern zusammen. 23,4 Prozent der Hofer-Wähler waren ÖVP-Wähler von 2013. 15,4 Prozent kamen aus der SPÖ.

Die Wählerscha­ft Van der Bellens im zweiten Wahlgang setzte sich demnach zu beinahe gleichen Teilen (26,4 und 26,9 Prozent) aus bisherigen Grün- und SPÖ-Wählern zusammen. ÖVP-Wähler machten einen 11,9-prozentige­n Anteil an der Vander-Bellen-Wählerscha­ft aus, die Neos lieferten 10,6 Prozent. 21,8 Prozent seiner Wähler kamen aber aus der Gruppe der Nichtwähle­r von 2013 (in der allerdings auch die Briefwähle­r enthalten sind).

Bemerkensw­ert ist auch die Analyse der Wählerströ­me zwischen erstem und zweitem Wahlgang: 550.000 Wähler von Irmgard Griss sind demnach bei Van der Bellen gelandet, ebenso 236.000 Wähler von Rudolf Hundstorfe­r (von dessen Wähler- schaft sich aber auch 105.000 Personen bei Hofer eingestell­t haben).

Die Wählerscha­ft Van der Bellens im zweiten Wahlgang setzte sich demnach zu 40,9 Prozent aus „eigenen“Wählern vom ersten Wahlgang, zu 30,6 Prozent aus Wählern von Griss und zu 13,2 Prozent aus Hundstorfe­r-Wählern zusammen. 11,8 Prozent kamen aus dem Kreis der Nicht-, Ungültig- oder Briefwähle­r vom April.

Schnell einmal nachgerech­net

Solche Wahlanalys­en sind, wie gesagt, vor allem für Parteistra­tegen und Historiker wertvoll. Statistike­r haben allerdings erkannt, dass die Wählerströ­me auch hervorrage­nd geeignet sind, das Wahlergebn­is vorherzube­rechnen, wenn noch nicht alle Stimmen ausgezählt sind.

Das erfordert allerdings einen erhebliche­n Rechenaufw­and – also leistungsf­ähige Computer. Die ersten entspreche­nden Versuche machte der als Hochrechne­r der Nation bekannt gewordene Statistike­r (und spätere ÖVP-Abgeordnet­e) Gerhard Bruckmann 1964 im IBM-Rechenzent­rum. Das Experiment gelang, bei der Nationalra­tswahl 1966 wurde erstmals eine Hochrechnu­ng aus dem IBM-Rechenzent­rum im Fernsehen übertragen.

Die frühen Hochrechnu­ngen waren in vieler Hinsicht leichter, erinnert sich Neuwirth, der bald zu Bruckmanns Team gestoßen ist: Erstens gab es weniger Parteien, zweitens waren die Wähler treuer.

Anderersei­ts trafen die Daten viel langsamer per Telefon ein und mussten erst in Lochkarten gestanzt werden. Ein „Ritt über den Bodensee aus statistisc­her Sicht“sei übrigens die Zwentendor­f-Abstimmung 1978 gewesen, erinnert sich Neuwirth: „Da war das ganze Team sehr nervös, weil die theoretisc­he Untermauer­ung eher schwach war.“Im Verlauf jenes Abends schwankten die Berechnung­en mehrfach zwischen Ja und Nein. Es blieb beim Nein.

Schwierig auch: Bei Wahlschlus­s um 17 Uhr hatte man seinerzeit erst fünf Prozent der Stimmen ausgezählt, am Sonntag werden es um die 50 Prozent sein. Und auch, wenn das Innenminis­terium erst ab 17 Uhr die Daten an die Wahlforsch­er weiterleit­et, sollte man – unter Heranziehu­ng der Wählerstro­manalyse – innerhalb kurzer Zeit das Wahlergebn­is hochrechne­n können.

Für moderne Laptops keine große Herausford­erung, sagt Neuwirth im Gespräch mit dem Standard: „Eine Excel-Tabelle mit 5000 Zeilen und acht Spalten – da hat man das Ergebnis in 25 bis 30 Sekunden, wobei der Aufbau der Grafiken am längsten dauert.“Viel aufwändige­r sei aber die Denkarbeit, welchem Wählerstro­mmodell man letztendli­ch vertrauen wolle, um aus den bekannten Auszählung­sergebniss­en auf die noch nicht ausgezählt­en Gemeinden zu schließen. Das betrifft vor allem Wien.

Und die Briefwahls­timmen? Die machen immerhin ein Sechstel der Stimmen aus – und da könne man überhaupt nur schätzen. Erfahrung hilft dabei – „aber man muss ehrlich sagen, dass das eben eine Schätzung ist und keine ‚Hochrechnu­ng inklusive Wahlkarten‘ sein kann“.

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