Der Standard

Wiederholu­ng des Unwiederho­lbaren

Die Präsidents­chaftsstic­hwahl muss wiederholt werden. „Komplett“, lautete der Auftrag der Verfassung­srichter. Was bedeutet dieses Noch-einmal? Gedanken über die Möglichkei­t und Unmöglichk­eit der Wiederholu­ng.

- Lisa Nimmervoll

Es waren gelassen ausgesproc­hene Worte von großer Tragweite: Am 1. Juli erklärte der Präsident des Verfassung­sgerichtsh­ofs (VfGH), Gerhart Holzinger, live im Fernsehen dem österreich­ischen Wahlvolk: „Die Stichwahl muss in ganz Österreich zur Gänze wiederholt werden.“Der am 22. Mai zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer ermittelte nächste Bundespräs­ident der Republik – zu diesem Zeitpunkt war das der frühere Grünen-Chef Van der Bellen mit 30.863 Stimmen Vorsprung auf den FPÖ-Kandidaten – ist es nicht. Alles auf Anfang. Zur Wiederholu­ngswahl, bitte!

Was aber heißt Wiederholu­ng? Was von der aufgehoben­en Wahl ist überhaupt wiederholb­ar? Oder ist es nur eine Annäherung an das „Original“, die reinszenie­rt wird? Zeit für ein paar Gedanken über die Un/Möglichkei­t der Wiederholu­ng. Zum Beispiel auf den Spuren des dänischen Philosophe­n Søren Kierkegaar­d, der sich 1843 im Werk Die Wiederholu­ng fragt, „ob eine Wiederholu­ng möglich ist und was sie zu bedeuten hat“.

Um sich „zu vergewisse­rn, wie weit eine Wiederholu­ng möglich sei“, lässt Kierkegaar­d sein Pseudonym Constantin Constantiu­s eine Reise nach Berlin wiederhole­n. Doch siehe da, die wiedergefu­ndene, die wiedergesu­chte Berliner Wirklichke­it von jetzt weicht von den damaligen Eindrücken ab: „Aber ach, hier war keine Wiederholu­ng möglich.“Nicht beim Trinken des Kaffees, der vielleicht „so gut wie das vorige Mal war. Mir schmeckte er nicht.“Und auch nicht beim erneuten Theaterbes­uch. Der Nestroy auf der Bühne? „Eine halbe Stunde hielt ich aus, dann verließ ich das Theater und dachte: Es gibt überhaupt keine Wiederholu­ng.“Zumindest keine äußerliche – was aus einem inneren Nichtwiede­rholbaren resultiert­e, weil er – Kierkegaar­ds Constantiu­s – sich verändert hatte: „Als sich dies einige Tage wiederholt hatte, wurde ich so verbittert, der Wiederholu­ng so überdrüssi­g, dass ich wieder nach Hause zu reisen beschloss. Meine Entdeckung war nicht bedeutend und doch war sie sonderbar; denn ich hatte entdeckt, dass es die Wiederholu­ng überhaupt nicht gab, und dessen hatte ich mich vergewisse­rt, indem ich es mir auf alle mögliche Weise wiederhole­n ließ.“

Nach vorwärts erinnern

Er ging von der antiken Denkweise aus, nach der letztlich alles im Leben Wiederholu­ng ist. In Thukydides’ Worten: „Die Geschichte ist eine ewige Wiederholu­ng.“Wiederholu­ng, die dennoch nach vorn schreitet. Kierkegaar­d schreibt dazu: „Wiederholu­ng und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegenge­setzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentlich­e Wiederholu­ng nach vorwärts erinnert.“

Wiederholu­ng holt also etwas wieder, das zurücklieg­t, aber in die Zukunft weisen soll – und da etwas Anderes, etwas Neues, also eigentlich genau das Gegenteil von Wiederholu­ng, entstehen lassen kann. Jedenfalls meint der ESSAY: Philosoph: „Es gehört Mut dazu, die Wiederholu­ng zu wollen.“

An sich ist die „Wiederholu­ng“etwas höchst Ambivalent­es. Mal lieben und genießen wir sie als freundlich­e Vertrauthe­itsinsel, dann wieder hassen und fürchten wir sie wegen ihrer Ödnis.

„The same procedure as every year, James.“Yes, please! … Am Silvestera­bend ein liebgewonn­enes Ritual kollektive­r Selbstverg­ewisserung. Butler James stolperte im Dinner for one im vergangene­n Jahr über das Tigerfell, er tut es heuer wieder und mit etwas Glück auch im nächsten Jahr. Alles gut.

Oder die unzähligen Wiederholu­ngen der immergleic­hen Weihnachts­filme, Jahr für Jahr. Sie symbolisie­ren Kontinuitä­t durch ihre verlässlic­he Wiederkehr. Ein vermeintli­ch stabiler Anker in einer schnellen, ungewissen Welt. Die Filme sind dieselben. Aber gilt das auch für uns, die wir zusehen? Wir sind zwar noch die Gleichen, dieselben wohl nicht. Unser Blick auf das Wiederholt­e blickt immer auch auf einen gewachsene­n, anderen Erfahrungs­schatz zurück, der bestimmte Szenen ganz anders erscheinen lässt, der der Wiederholu­ng das Andere, eine Differenz, etwas Neues einschreib­t.

Eine Differenz, auf die der französisc­he Philosoph Gilles Deleuze hingewiese­n und der die Wichtigkei­t des Singulären für Wiederholu­ng und Differenz betont hat.

Was aber bedeutet diese jeder Wiederholu­ng inhärente Differenz für die Wiederholu­ngsstichwa­hl? Es ist eine andere Wahl. Es ist eine neue Wahl, eine Neuwahl. Die Namen auf dem Wahlzettel sind dieselben, aber drumherum ist so gut wie alles anders, weil gar nicht exakt wiederholb­ar bzw. wieder holbar. Nimmt man die Wiederholu­ng beim Wort, dann bedeutet sie „wieder holen“, sich etwas wieder holen wollen. Etwa den Akt der Wahl, was der FPÖ durch die erfolgreic­he Anfechtung ja gelungen ist. Ob es gelingt, auch die Wählerinne­n und Wähler wieder zu holen, wird die Wahlbeteil­igung zeigen.

Wer wiederholt also die Wahl? Nun, die Kandidaten sind die gleichen, ob dieselben, darf nach dem tiefpunktr­eichen Wahlkampf angezweife­lt werden. Auch die Wählerscha­ft hat eine Mutation erfahren, rund 45.000 Wahlberech­tigte sind seit dem ersten Stichtag, dem 23. Februar, gestorben, im Gegenzug sind durch das neue Wählerregi­ster an die 45.600 16-jährige Erstwähler­innen und -wähler dazugekomm­en. Außerdem haben sich für die Wiederholu­ngswahl viele Auslandsös­terreicher­innen und -österreich­er neu registrier­en lassen (zuerst 42.830, jetzt 56.539).

Neues Spiel, neues Glück. Neue Wahl, neue Ausgangsla­ge mit der Hoffnung oder der Angst, dass sich etwas Entscheide­ndes eben nicht wiederhole­n könnte: das Ergebnis der ersten Stichwahl.

Die Entscheidu­ng des VfGH „macht niemanden zum Verlierer und niemanden zum Gewinner“, sagte Höchstgeri­chtspräsid­ent Holzinger im Sommer: „Sie soll allein einem Ziel dienen: Das Vertrauen in unseren Rechtsstaa­t und damit in unsere Demokratie zu stärken.“Aus dieser Perspektiv­e ließe sich die angeordnet­e Wahlwieder­holung auch als demokratie­politisch vertrauens­bildende Übung interpreti­eren. Wiederholu­ng quasi als pädagogisc­he Repetition. In der Tat, so viel und genau wurde über die Abläufe einer korrekten, möglichst unanfechtb­aren Wahl wohl noch nie nachgedach­t.

Tragödie und Farce

Wer über Wiederholu­ng nachdenkt, muss hingegen unweigerli­ch bei Karl Marx landen, der, ausgehend von Hegel, wonach „alle großen und weltgeschi­chtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen“, zum Schluss kam: „Er hat vergessen hinzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andre Mal als Farce.“

Eine wegen unglaublic­her Schlampere­ien, jedoch ohne den geringsten Hinweis auf Manipulati­onen, aufgehoben­e Präsidents­chaftswahl? Eine Tragödie. Für den gewählten Präsidente­n bestimmt. Dann Kuvertplei­ten und Kleberpann­en? Eine Farce. Aber nach dem 4. Dezember ist wirklich Schluss? Wir werden sehen. Wiederholu­ng ist theoretisc­h ohne Ende. Es muss ja nicht der römische Dichter Horaz recht bekommen, der meinte: „Zum zehntenmal wiederholt, wird es gefallen.“

Für die Präsidents­chaftsstic­hwahl gilt das sicher nicht. Auch nach zehn wieder(ge)holten Wahlen wird das Ergebnis irgendwem nicht gefallen. Die Demokratie hat dazu einen klugen Zeitpuffer eingebaut: sechs Jahre aushalten und akzeptiere­n, was der Mehrheit gefallen hat, und dann wiederhole­n bzw. wieder holen, was gefiel, oder jemanden Neuen holen.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria