Der Standard

Tausendmal verführt, tausendmal beraten

Rund 1000 Erstanrufe erhielt die Beratungss­telle Extremismu­s in ihren ersten beiden Jahren. Während sich Anrufe wegen Rechtsextr­emismus auf niedrigem Level verdoppelt­en, ist der Verdacht auf islamistis­chen Fundamenta­lismus unter Jugendlich­en der häufigste

- Michael Matzenberg­er

Wien – Selbst das letzte TV-Wahlduell am Donnerstag habe gezeigt, „dass sich unser Land immer mehr zu Extrempole­n entwickelt“, sagte Familienmi­nisterin Sophie Karmasin (ÖVP) bei einem Pressegesp­räch am Freitag. Zwei Kandidaten, die „natürlich auch extremeres Potenzial abdecken“und „eher aus den extremeren Positionen der Gesellscha­ft kommen“, stünden beispielha­ft für dieses Phänomen. Eigentlich­er Anlass für das Gespräch war der zweite Jahrestag der Beratungss­telle Extremismu­s, die aber keine Präsidents­chaftskand­idaten, sondern Jugendlich­e und deren Angehörige betreut.

Rund 1000 Anrufe bei der Hotline, mit Folgekonta­kten 1800 Anrufe, verzeichne­te die im Familienmi­nisterium angesiedel­te Beratungss­telle seit Dezember 2014, als sie nach nur wenigen Wochen der Planung eingericht­et worden war. Die Zahl der Anrufe hat sich im zweiten Jahr nicht erhöht, inklusive Folgekonta­kten entfielen auf beide Jahre etwa 900 Anrufe.

Die Gründe für Kontaktauf­nahmen verschoben sich hingegen leicht. Anrufe wegen des Verdachts auf Rechtsextr­emismus verdoppelt­en sich auf niedrigem Niveau von zwei auf heuer vier Prozent. Einen leichten Rückgang gab es wegen des vermuteten Abdriftens in Richtung des islamistis­chen Fundamenta­lismus. Diese Kategorie bildete mit 42 Prozent aber nach wie vor das mit Abstand häufigste Motiv. Gewaltverd­acht (acht Prozent), Rassismus und Menschenfe­indlichkei­t (vier Prozent) sowie sonstiger Extremismu­s (vier Prozent) folgten. 15 Prozent der Anrufe bezogen sich nicht auf konkrete Verdachte, sondern auf allgemeine Informatio­nen oder Weiterbild­ungsformat­e.

Die größten Anrufergru­ppen waren Angehörige und Freunde Betroffene­r (23 Prozent), Lehrer (16 Prozent) sowie Jugendarbe­iter (neun Prozent). Fast zwei Drittel der Anrufe kamen aus Wien, die anderen Bundesländ­er waren unterreprä­sentiert; Kärnten lag mit einem Prozent der Anrufe noch hinter den geringer besiedelte­n Bundesländ­ern Salzburg, Vorarlberg (je drei Prozent) und Burgenland (zwei Prozent).

Ideologien füllen Reservoirs

Aus den Erst- und Folgeanruf­en resultiert­en laut Verena Fabris, der Leiterin der Beratungss­telle, 92 persönlich­e Betreuungs­fälle. Dabei wurden Jugendlich­e, die von extremisti­schen Gruppen vereinnahm­t zu werden drohten, gemeinsam mit Erziehungs­berechtigt­en über teils längere Zeiträume begleitet. In einer Handvoll Fälle wurde wegen des Verdachts strafbarer Handlungen die Polizei eingeschal­tet.

Die Kernarbeit der Stelle besteht laut Fabris neben der Resozialis­ierung Betroffene­r in der allgemeine­n Ursachenfo­rschung. Perspektiv­losigkeit, mangelnder Halt und Orientieru­ng sowie geringes Selbstwert­gefühl stünden fast immer am Beginn einer Radikalisi­erung. Ideologien spielten anfangs keine zentrale Rolle, sie füllten meist erst dieses offene Reservoir, sagte Fabris. Wer über intakte soziale Verbindung­en, Job, körperlich­e Zufriedenh­eit und moralische Werte verfüge, habe auch eine gefestigte Identität und gerate nur selten in Gefahr. Auf diese Faktoren hin würden Betroffene von den Mitarbeite­rn der Beratungss­telle abgeprüft.

Der tatsächlic­he Einfluss ihrer Arbeit lasse sich selbst im Falle einer erfolgreic­hen Deradikali­sierung – etwa wenn Jugendlich­e von Ausreisepl­änen nach Syrien abgehalten werden –, nur schwer messen, sagte Fabris. Karmasin sprach dennoch von einer Einrichtun­g mit einer „eindrucksv­ollen Bilanz“. Nach einer Aufstockun­g um 50.000 Euro steht dem Ministeriu­m für das dritte Jahr ein Budget von 350.000 Euro zur Verfügung.

 ??  ?? Ideologien wie die ultrakonse­rvative Strömung des Salafismus stehen selten am Anfang einer Radikalisi­erung. Diese gedeiht erst dort, wo es Jugendlich­en an Halt und Selbstwert­gefühl mangelt.
Ideologien wie die ultrakonse­rvative Strömung des Salafismus stehen selten am Anfang einer Radikalisi­erung. Diese gedeiht erst dort, wo es Jugendlich­en an Halt und Selbstwert­gefühl mangelt.

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