Tausendmal verführt, tausendmal beraten
Rund 1000 Erstanrufe erhielt die Beratungsstelle Extremismus in ihren ersten beiden Jahren. Während sich Anrufe wegen Rechtsextremismus auf niedrigem Level verdoppelten, ist der Verdacht auf islamistischen Fundamentalismus unter Jugendlichen der häufigste
Wien – Selbst das letzte TV-Wahlduell am Donnerstag habe gezeigt, „dass sich unser Land immer mehr zu Extrempolen entwickelt“, sagte Familienministerin Sophie Karmasin (ÖVP) bei einem Pressegespräch am Freitag. Zwei Kandidaten, die „natürlich auch extremeres Potenzial abdecken“und „eher aus den extremeren Positionen der Gesellschaft kommen“, stünden beispielhaft für dieses Phänomen. Eigentlicher Anlass für das Gespräch war der zweite Jahrestag der Beratungsstelle Extremismus, die aber keine Präsidentschaftskandidaten, sondern Jugendliche und deren Angehörige betreut.
Rund 1000 Anrufe bei der Hotline, mit Folgekontakten 1800 Anrufe, verzeichnete die im Familienministerium angesiedelte Beratungsstelle seit Dezember 2014, als sie nach nur wenigen Wochen der Planung eingerichtet worden war. Die Zahl der Anrufe hat sich im zweiten Jahr nicht erhöht, inklusive Folgekontakten entfielen auf beide Jahre etwa 900 Anrufe.
Die Gründe für Kontaktaufnahmen verschoben sich hingegen leicht. Anrufe wegen des Verdachts auf Rechtsextremismus verdoppelten sich auf niedrigem Niveau von zwei auf heuer vier Prozent. Einen leichten Rückgang gab es wegen des vermuteten Abdriftens in Richtung des islamistischen Fundamentalismus. Diese Kategorie bildete mit 42 Prozent aber nach wie vor das mit Abstand häufigste Motiv. Gewaltverdacht (acht Prozent), Rassismus und Menschenfeindlichkeit (vier Prozent) sowie sonstiger Extremismus (vier Prozent) folgten. 15 Prozent der Anrufe bezogen sich nicht auf konkrete Verdachte, sondern auf allgemeine Informationen oder Weiterbildungsformate.
Die größten Anrufergruppen waren Angehörige und Freunde Betroffener (23 Prozent), Lehrer (16 Prozent) sowie Jugendarbeiter (neun Prozent). Fast zwei Drittel der Anrufe kamen aus Wien, die anderen Bundesländer waren unterrepräsentiert; Kärnten lag mit einem Prozent der Anrufe noch hinter den geringer besiedelten Bundesländern Salzburg, Vorarlberg (je drei Prozent) und Burgenland (zwei Prozent).
Ideologien füllen Reservoirs
Aus den Erst- und Folgeanrufen resultierten laut Verena Fabris, der Leiterin der Beratungsstelle, 92 persönliche Betreuungsfälle. Dabei wurden Jugendliche, die von extremistischen Gruppen vereinnahmt zu werden drohten, gemeinsam mit Erziehungsberechtigten über teils längere Zeiträume begleitet. In einer Handvoll Fälle wurde wegen des Verdachts strafbarer Handlungen die Polizei eingeschaltet.
Die Kernarbeit der Stelle besteht laut Fabris neben der Resozialisierung Betroffener in der allgemeinen Ursachenforschung. Perspektivlosigkeit, mangelnder Halt und Orientierung sowie geringes Selbstwertgefühl stünden fast immer am Beginn einer Radikalisierung. Ideologien spielten anfangs keine zentrale Rolle, sie füllten meist erst dieses offene Reservoir, sagte Fabris. Wer über intakte soziale Verbindungen, Job, körperliche Zufriedenheit und moralische Werte verfüge, habe auch eine gefestigte Identität und gerate nur selten in Gefahr. Auf diese Faktoren hin würden Betroffene von den Mitarbeitern der Beratungsstelle abgeprüft.
Der tatsächliche Einfluss ihrer Arbeit lasse sich selbst im Falle einer erfolgreichen Deradikalisierung – etwa wenn Jugendliche von Ausreiseplänen nach Syrien abgehalten werden –, nur schwer messen, sagte Fabris. Karmasin sprach dennoch von einer Einrichtung mit einer „eindrucksvollen Bilanz“. Nach einer Aufstockung um 50.000 Euro steht dem Ministerium für das dritte Jahr ein Budget von 350.000 Euro zur Verfügung.