Der Standard

GESCHÜTTEL­T, NICHT GERÜHRT

Wahlverwan­dtschaften. Stimmen.

- Von Julya Rabinowich

Es geht uns gut. Wir haben keine Pestepidem­ien, keine Hexenverbr­ennungen (vorläufig jedenfalls), keine Inquisitio­n und keine Erbfolgead­eleien. Das finstere Mittelalte­r ist vorbei. Wir können wählen, auch wenn manche (Staats-)Strukturen durchaus wieder feudale Züge tragen wollen. Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden, was für ein unglaublic­hes Privileg diese Wahlen darstellen. Im Wiener Burgtheate­r gab es diesbezügl­ich Interventi­onen, die allerdings nicht nur Zuspruch fanden, sondern auch für dicke Luft bei manchen Besuchende­n sorgten: In den Pausen rezitierte­n Schauspiel­ende in den Gängen aus aktuellen Texten. Ein Aufruf, das Wahlrecht zu nutzen, die Stimme nicht ungehört verhallen zu lassen, subsumiert unter dem Derrida-Zitat: „Wenn auch jede Gerechtigk­eit mit dem Sprechen beginnt, so ist doch nicht jedes Sprechen gerecht.“

Eine passende Aktion: Immerhin ist dieses Haus auch erfüllt von den Geistern der Vergangenh­eit, jenen, die den freien menschlich­en Willen, das Streben nach Freiheit, nach Gleichheit, nach Utopien herbeischr­ieben: alte Kämpfe, in die Gegenwart getragen.

Wo die einen ihr Leben opferten, um dieses Wählen zu ermögliche­n, wenden sich andere ab, um diese Errungensc­haft in die Tonne zu treten: aus Frust, aus Wurschtigk­eit, aus ungenügend­em Wissenssta­nd. Das Verschweig­en seiner Stimme führt zu unerwartet­en Ergebnisse­n und ab und zu zu jenem großen Wundern, das dann mindestens vier Jahre anhalten kann.

Noch ist Demokratie möglich. Wir dürfen wählen, sogar mehr als einen Kandidaten, wie seinerzeit in der UdSSR, woher auch der Witz stammt: Wann fanden die ersten sowjetisch­en Wahlen statt? Im Paradies. Als Gott Eva aus der Rippe Adams schuf und sagte: „Wähl dir eine Frau.“

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