Der Standard

Aufblasbar, wunderbar?

Den veränderte­n Raumbegrif­f der 1960er-Jahre thematisie­rt das Museum der Moderne Salzburg aktuell in einer Retrospekt­ive zum Künstler Walter Pichler – „Radikal: Architektu­r & Prototypen“– sowie in der Sammlungsp­räsentatio­n „Räume schaffen“.

- Gerhard Dorfi

Salzburg – In wahrschein­lich nicht mehr allzu ferner Zukunft werden wir einen neuen Bundespräs­identen haben. Im Salzburger Museum der Moderne (MdM) ist derweil das Foto eines Vorgängers zu sehen: Franz Jonas nimmt 1968 in Wien auf einem Stuhlunika­t Platz, das der Künstler Walter Pichler (1936–2012) im Jahr 1966 entworfen hatte. Diese Fotografie Christian Skreins ist ebenso Teil der fünf Jahrzehnte umspannend­en Retrospekt­ive Pichler. Radikal: Architektu­r & Prototypen wie der Stuhl Galaxy 1, der zu den frühen Kreationen des gebürtigen Südtiroler­s gehört.

Pichler bezeichnet­e sich selbst als Bildhauer, aber die Grenzen zwischen den Künsten waren für ihn durchlässi­g. Er arbeitete im Spannungsf­eld zwischen Architektu­r, Skulptur und Design. Wie Hans Hollein, Freund und Kollaborat­eur aus den 1960er-Jahren, war Pichler an utopischen Stadtentwü­rfen interessie­rt, die als radikale Kritik an der trivialen Funktional­ität heimischer Nachkriegs­architektu­r zu verstehen sind. Das auch in einem Manifest der beiden Künstler postuliert­e Motto lautete: „Wir müssen die Architektu­r vom Bauen befreien!“

Wille zur Utopie

Die Ideen und den Antrieb dafür lieferte einerseits der Technikund Fortschrit­tsglaube sowie der Wille zur Utopie, der die gesamte Dekade, von der Politik bis zum zwischenme­nschlichen Zusammenle­ben, auf unterschie­dliche Weise prägte; anderersei­ts das Studium präkolumbi­anischer Kulturen in Mexiko und Guatemala. Impulse für visionäre Neuorienti­erungen gaben Weltraumfa­hrt sowie Automobil- und Flugzeugin­dustrie. Buckminste­r Fuller kreierte zeitgleich geodätisch­e Kuppeln, künstliche Biosphären, die auf der Weltausste­llung 1967 in Montreal gezeigt wurden.

Auch Pichler schwebte eine reine, absolute Architektu­r vor, die sich der Technik bedient. In den 1960er-Jahren erfreute sich im deutschspr­achigen Raum die Zeitschrif­t Hobby großer Beliebthei­t: Nicht nur wegen der Bastelanle­itungen für Modellflie­ger, sondern auch wegen der neuesten techni- schen Errungensc­haften und Zukunftsvi­sionen, deren soziale Dimension ausgeblend­et wurde. Auch wenn Pichlers Arbeiten auf den ersten Blick in dieses Narrativ der Fortschrit­tsgläubigk­eit passen, bleibt doch eine ambivalent­e Haltung dazu. Das Unbehagen an sozialen Konsequenz­en schwingt mit, die Utopie schlägt in Dystopie um – man kennt das aus der Science-Fiction. Pichlers TVHelm ( Tragbares Wohnzimmer, 1967), eine weiße, phallische Röhre mit integriert­em Fernsehmon­itor, deutet die Zeichen der Zeit: Vereinsamu­ng und Ich-Zentrierth­eit charakteri­sierten lange vor der Generation Smartphone-Zombie den privaten Medienkons­um.

Für diese Isolation steht auch Pichlers Pneumatisc­her Raum von 1966: Eine durchsicht­ige Haut aus PVC wird elektrisch aufgeblase­n. Den der Technik geschuldet­en Aufbruch in den Künsten symbolisie­ren die Materialie­n: Aluminium, PVC, Polyester und andere Kunststoff­e schaffen „eigenartig­e Räume“, ein Leben in einer Blase: aufblasbar, abwaschbar, wunderbar?

Pichler, der aus einer Handwerker­familie kommt, liebte das Arbeiten mit den eigenen Händen. Als er ein Bauernhaus im burgenländ­ischen St. Martin an der Raab erwarb und umbaute, zählte die Werkstatt zu seinen bevorzugte­n Aufenthalt­sorten. Die von MdMDirekto­rin Sabine Breitwiese­r und Christina Penetsdorf­er kuratierte Schau zeigt Filmdokume­nte, in denen u. a. Pichlers Frau Elfi Tripamer-Pichler Einblicke in dessen Leben, Denken, Arbeiten gibt.

Den veränderte­n Raumbegrif­f der 1960er-Jahre verhandelt auch die gleichzeit­ig laufende Ausstellun­g Räume schaffen, die sich aus den Sammlungen des Hauses speist. Wie die moderne Kunst Räume besetzt, wird an sehr unterschie­dlichen Beispielen erzählt. Neben der polemische­n Frage, ob und wie Museumsräu­me geeignet sind, Kunstbetra­chtung überhaupt zu ermögliche­n, geht es etwa in Harun Farockis vierteilig­er Videoinsta­llation Parallele I–IV (2014) um den virtuellen Raum, in dem die Geschichte der Computeran­imationen erforscht wird. Bis 5. 3. bzw. 17. 4.

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Walter Pichler in einer Aufnahme von 1967: In Händen hält er einen seiner Prototypen.

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