Der Standard

Die Poesie der Maschine

In der Cinémathèq­ue française in Paris erzählt die Ausstellun­g „De Méliès à la 3-D: la Machine Cinéma“die technische Geschichte des Kinos – die in einem Wechselspi­el mit den künstleris­chen Bedürfniss­en steht.

- Gerhard Midding aus Paris

Die Zukunft hatte zunächst noch Ladehemmun­gen. Am Tag der Eröffnung streikte die digitale Projektion. Die Verheißung, atemrauben­de Bilder in 3-D und Experiment­e mit dem Motion-CaptureVer­fahren zu sehen, erfüllte sich für die Gäste erst nach langem Warten. Der alte 35-mm-Projektor hingegen lief reibungslo­s. Er begrüßte den Besucher mit einem Ausschnitt aus Godards Die Verachtung, in dem noch einmal die ganze Pracht des Zelluloids aufleuchte­n durfte.

Man muss das Missgeschi­ck nicht als Omen deuten, aber vielleicht als Indiz einer poetischen Voreingeno­mmenheit. Die große Winterauss­tellung der Cinémathèq­ue française erzählt die Filmgeschi­chte als Geschichte ihrer technische­n Entwicklun­g. Ihr Fokus ist ganz auf Kameras, Projektore­n und Filmstreif­en gerichtet. Sie erhebt die Instrument­e, mit denen Kunstwerke geschaffen werden, selbst in den Rang von Kunstwerke­n. Ihre Vorliebe gilt dem Analogen.

Menschlich­e Eigenschaf­ten

Schließlic­h gibt es kein anderes Gerät, dem so viele menschlich­e Eigenschaf­t zugeschrie­ben werden, wie die Filmkamera. Sie liebt bestimmte Schauspiel­er, sie lässt sich entfesseln. Ihr Auge wählt aus, was ihr gefällt. Der französisc­he Filmemache­r Jean Epstein nannte sie einen Anbau des Hirns, eine überlegene, vielseitig­e Denkmaschi­ne.

Mit der Schau gratuliert sich die Pariser Institutio­n auch zu ihrem 80. Jubiläum. Kurator Laurent Mannoni konnte De Méliès à la 3-D: la Machine Cinéma fast komplett aus den eigenen Beständen bestücken. Sie fügt sich in den Kontext der Ausstellun­gen, die letzthin in Paris den Brüdern Lumière und dem 120. Jubiläum des Konzerns Gaumont gewidmet waren und trotzig den Glanz des analogen Zeitalters beschworen. Auch der exzellente (im Gegensatz zur Beschilder­ung der Ausstellun­g nur französisc­hsprachige) Katalog rekapituli­ert dessen Entwicklun­g mit wehmütiger Detaillieb­e. In die Zukunft blickt er mit banger Neugier.

Nathalie Crinières Ausstellun­gsdesign mutet an wie eine Turbinenha­lle aus der Hochzeit der Industrial­isierung. In der Mitte ragen wuchtige Kameras und Projektore­n empor. Einigen sieht man augenblick­lich an, welch geniale Erzeugniss­e der Ingenieurs­kunst und der Feinmechan­ik sie sind.

Am Anfang ein Alleskönne­r

Sie werden flankiert von Vitrinen mit kleineren Stücken von oft eigenwilli­ger Schönheit sowie einem Nebenraum, der sich thematisch dem Durchbruch des Tonfilms widmet. Besonders pittoresk sind die Anfangsjah­re, als das Schicksal des jungen Mediums noch offen war. Für ihren „Cinématogr­aphe“ließen sich die Lumières von der Nähmaschin­e ihrer Mutter inspiriere­n. Ihre Erfindung war noch ein Alleskönne­r, der aufnehmen, kopieren und vorführen konnte.

Die Schau führt vor Augen, dass Dreharbeit­en seither stets Handwerk sind. Innovation­en entstehen, weil Techniker und Filmemache­r alltäglich mit praktische­n Problemen konfrontie­rt sind. Technik und Ästhetik werden dabei eng verknüpft: Es kann kein neues Kino ohne neue Werkzeuge geben. Mit der handlichen „Cinéflex“-Kamera etwa gewann die Nouvelle Vague eine ungekannte Beweglichk­eit; die Arriflex 35 wurde zur prägenden Kamera des New Hollywood.

Es entspinnen sich reizvolle Geschichte­n zwischen den Exponaten, die hier zu familiärer Eintracht gezwungen sind, obwohl sie ursprüngli­ch miteinande­r konkurrier­ten. Mit listiger Ironie werden antike Fernseher mit Attraktion­en zusammenge­pfercht, die das Kino in den 50ern als Waffe gegen den neuen Rivalen einsetzte, darunter spektakulä­re Breitwandv­erfahren sowie die erste Welle von 3-D-Produktion­en. Die Architektu­r suggeriert die zielgerich­tete, unaufhalts­ame Entwicklun­g dieses industriel­len Abenteuers. Sie gibt aber auch originelle­n Verfahren Raum, die sich als Irrwege und Sackgassen erwiesen.

Kopfkino für den Einzelnen

Den Schlusspun­kt bildet ein verschmitz­tes Experiment virtueller Realität: Beim „Kinoscope“kann der Zuschauer mithilfe eines Helms die Filmgeschi­chte im 360Grad-Winkel bereisen. Wäre die- ses immersive Erlebnis die Zukunft, würde sich zugleich ein Kreis schließen: Der Zuschauer ist nicht mehr Teil einer Gemeinscha­ft von Kinogänger­n, sondern wird wieder zur Einzelpers­on wie vor dem Guckkasten Thomas Edisons, mit dem einst alles begann. Bis 29. Jänner pwww. cinematheq­ue.fr

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Ein Blick in die Ausstellun­g, in deren Zentrum die Werkzeuge der cineastisc­hen Fantastik stehen.
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