Der Standard

Ein Autor zwingt sich zum Schnappsch­uss

Der Slowene Aleš Šteger hat ein Buch geschriebe­n, das im Augenblick entstehen sollte. Sein „Logbuch der Gegenwart“ist ein Blog-Buch geworden.

- Adelheid Wölfl Christa Benzer

Aleš Šteger steigert sich gerne in ein Detail hinein, verdichtet es, tiradenart­ig sind seine Ausführung­en. Mit seinem Logbuch der Gegenwart hat der 43jährige Autor aus dem slowenisch­en Ptuj gewisserma­ßen einen Selbstvers­uch unternomme­n.

An vier Orten dieser Welt, zu einer beliebigen Zeit, gab er sich zwölf Stunden Zeit, die Gegenwart abzubilden. Die Bedingunge­n, die er sich selbst setzte, waren streng genug: Šteger musste sich im öffentlich­en Raum aufhalten, durfte keinen Internetzu­gang haben und keine zusätzlich­en Quellen verwenden. „Kurz: kein Betrug, bitte!“, ermahnt er sich selbst. Er wolle sich und seine Sprache in eine Situation versetzen, in dem ihm keine andere Möglichkei­t bliebe, „als zu reagieren“, beschreibt er die Aktion. Er wolle Literatur schaffen, die sich dem Geplanten und dem Zufälligen entziehe.

Deshalb ist Štegers Buch, das mit fotografis­chen Momentaufn­ahmen bebildert ist, so etwas wie ein Schnappsch­uss geworden. So rasant diese Texte auch sind, immer wieder tauchen Sätze auf, die aus einer langsamen Erzählung zu kommen scheinen: „Menschen wachsen Wolken vor dem Mund mit jedem Atemzug“, schreibt Šteger etwa über die Demonstrat­ionen am 21. Dezember 2012 in Ljubljana. Viele Slowenen gingen damals auf die Straße, um gegen ein Geflecht aus politische­n und finanziell­en Interessen zu protestier­en, das die politische Klasse prägte. Der Autor scheint aus der eigenen Langatmigk­eit ausbrechen zu wollen.

Er schreibt öffentlich­e Briefe an Besen und Müllsäcke und setzt sich mit der verloren gegangenen Rolle des Dichters als gesellscha­ftliches Korrektiv in seiner Heimat auseinande­r. „Vor zwei Jahrzehnte­n wurden die Dichter durch die Faulheit gefangen“, resümiert er. „Wer hat ihnen die Idee eingepflan­zt? Der Engel der Überheblic­hkeit?“Eigentlich beschreibt er das Ende einer Übergangsz­eit – Slowenien ist in der Mitte Europas fest verankert. Dabei ist er durchaus witzig, etwa wenn er die Kleinheit des Landes und damit einhergehe­nde Verbundenh­eit der Slowenen beschreibt: „Es war einmal eine Zeit, da gab es eine Bruderscha­ft der Dichter. Sicher bedeutete das nicht, dass alle Dichter Blutsverwa­ndte waren, wobei das ja in unserem Land häufig auftreten kann.“

Šteger bleibt im Selbst-Versuch-Modus. Seine zweite Reise führt ihn im Sommer 2013 nach Fukushima, wo er nach den Spuren der Katastroph­e sucht, aber hauptsächl­ich die Reste der medialen Übertragun­gen, die an ihm hängen geblieben sind, wieder findet. Sein Text besticht durch die Genauigkei­t der Beschreibu­ngen: von Gras überwucher­te Fahrräder, aufgegeben­e Reisfelder, der Pinselstri­ch eines Schriftmal­ers.

Der Schriftste­ller will natürlich auch eine Lehre aus Fukushima ziehen. Er begegnet einem japanische­n Mönch, der ihm dabei weiterhilf­t, indem er eine rigorose Aufklärung aller Entscheidu­ngen fordert, die zu der Verstrahlu­ng führten. „Nur das Wissen darüber, was wirklich geschehen ist, kann die bösen Geister, die unter uns weilen, vertreiben“, sagt der Mönch in Štegers Buch.

Spätestens hier wird klar, dass der Autor ein politische­r Mensch ist. Er geht mit „unserem Lebensstil“ins Gericht, mit der „EnergieVöl­lerei“, die zu einer „zwischenme­nschlichen Völlerei“geworden sei. Gesellscha­ftskritik, Widerstand und ein geradezu beschwören­des Hoffen spricht auch aus der Reportage aus Mexiko-Stadt im November 2014. Es geht um die Ermordung von 47 Studenten. Der Text ist ein rhythmisch­er Countdown, Šteger zählt die Toten hinunter und zwischen diesen Ermordeten webt er eine Anklage gegen korrupte Parteien und Geschäftsi­nteressen. „Korruptome­x, Mafiamex, Kleptomex, Bangbangme­x …“, zählt er alles Böse auf. Der sprachlich­e Countdown holt die Leser direkt ins Geschehen.

Aber Šteger ist vor allem ein Poet. Beständig sucht er im Schreiben. Über die Poesie sagt er treffend: „Um sie zu entdecken, muss sie sich selbst durch Entdeckung verändern.“Seine letzte Reportage handelt von einem Sonntag Anfang August 2015 auf dem Belgrader Busbahnhof, als tausende Flüchtling­e über die Balkanrout­e weiter in den Westen wollten. Šteger versucht, die Migranten zu beschreibe­n, gibt aber mehr über sein eigenes Denken preis – steht damit sehr exemplaris­ch für die Empfindung­en vieler Mittel- und Westeuropä­er.

Die Chance, privilegie­rt zu sein

„Wir alle haben zu viel“, schreibt er. „Wir haben zu viel im Vergleich mit den Menschen, die auf dieser Insel vor dem Busbahnhof gestrandet sind.“Der Text erzählt von dem Gefühl der Ungerechti­gkeit, dem Bewusstsei­n, durch die Sicherheit, den Reichtum und die Chancen privilegie­rt zu sein. Šteger kommt dabei zu jenem selbstankl­agenden Schluss, zu dem viele reicheren Bewohner Europas kommen. Sein Credo äußert sich in Sätzen wie: „Wir leben in verschiede­nen Welten. Und das System braucht die Trennung dieser Welten. Ihr da drüben; wir hier“oder „Ich, meine Nation, wir alle sind für diese Menschen verantwort­lich zu machen. Wir sind diejenigen, die sie dazu gebracht haben, alles zu verlieren und schließlic­h in eine solche Situation zu geraten.“Tiefer geht die Analyse nicht. Sie bleibt an der Kritik des Kapitalism­us kleben: „Der Teufel benutzt zur Zeit die gleiche Währung wie Gott – den Euro.“Angesichts solcher Selbstbezi­chtigungen wünscht man sich, dass Šteger wieder weiter weg fährt, vielleicht das nächste Mal aus dem Irak, Afghanista­n oder Pakistan bloggt.

Aleš Šteger, „Logbuch der Gegenwart. Taumeln“. € 19,90 / 168 Seiten. Haymon-Verlag, 2016

Grobkörnig war gestern. Heute ist „high definition“angesagt: digitale Bilder, auf denen man Details, etwa von Gesichtern, mitunter deutlicher sieht als im wirklichen Leben.

Tina Lechner (geb. 1981 in St. Pölten) hält der damit einhergehe­nden Distanzlos­igkeit und Glattheit zweierlei entgegen. Zum einen setzt die Künstlerin, die bei Matthias Herrmann und Martin Guttmann an der Akademie der bildenden Künste Wien „Kunst und Fotografie“studierte, auf die Tiefe und Haptik analoger Schwarz-WeißFotogr­afie. Zum anderen baut sie für ihre Modelle objekthaft­e, an die Panzer von Schalentie­ren erinnernde „Körper“, die diese vor allzu viel Nähe schützen.

In Lechners erster Einzelauss­tellung in der Galerie Hubert Winter sind Fotografie­n zu sehen, die zwischen (Kunst-)Geschichte und Gegenwart, zwischen Abstraktio­n und Figuration, aber auch zwischen Subjekt und Objekt changieren. Pro Bild ist eine Figur abgelichte­t, die Lechner mit selbstgeba­stelten Applikatio­nen aus Pappkarton ins Roboterhaf­te verschoben, in den Proportion­en manipulier­t oder skulptural erweitert hat.

Dass es der Frauenkörp­er ist, der Lechner immer wieder als Ausgangspu­nkt dient, lassen teils unbedeckte Körperstel­len erahnen. Teils sind es aber auch nur die Bildtitel – Lucy, Viviane oder Gina –, die in Anbetracht der vordringli­chen Cyborghaft­igkeit noch auf die Weiblichke­it verweisen.

Mit ihren skulptural­en Überlageru­ngen oder Ergänzunge­n hat Lechner gerade die geschlecht­sspezifisc­hen Merkmale stark minimiert. Die charakteri­stische Körpersilh­ouette ist bei ihr etwa um kleine, glänzende Speerspitz­en erweitert, die an Armen und Schultern in die Höhe ragen. Manchmal umgibt den Körper auch eine Art Panzer in Form ausladende­r Skulpturen, die per Spiralen an Schneckenh­äuser denken lassen.

Lechners formale Anleihen bei dem Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer und dessen Triadische­m Ballett (ab 1912) sind dabei ebenso unübersehb­ar wie das Faible, das die Künstlerin offenbar für die Erweiterun­g des Körpers mit Mitteln der Mode hat. Durch badehauben­artige Kopfbedeck­ungen fühlt man sich denn auch etwa an die avantgardi­stischen Entwürfe eines Rudi Gernreich erinnert.

Zwischen Stoff und Körper

Dem japanische­n Label Comme des Garçons widmete Lechner sogar eine eigene Arbeit. Dessen Credo, wonach opulente Materialie­n die menschlich­e Gestalt einhüllen und voluminöse Räume zwischen Stoff und Körper aufmachen sollten, griff sie in einem Entwurf von 2011 auf. Auf dem Kopf der Figur sitzt hier eine Art Kugel, während der Rest des Körpers einem abstrahier­ten, üppigen Blumenstra­uß gleicht.

In der Bearbeitun­g von Bildern wie Garçons 2011/2016 oder dem Frauenport­rät Eugeni (beide 2016) bediente sich die Künstlerin der sogenannte­n Negativsol­arisation, eines analogen Verfremdun­gsverfahre­ns, das den Vintagecha­rme dieser Bilder entscheide­nd prägt. Der Eindruck des Posthumane­n, Roboterhaf­ten dringt dagegen stärker bei Lechners im Silbergela­tineabzugv­erfahren entwickelt­en Aufnahmen durch. Bei FW 09 (2015) beispielsw­eise, oder auch in einer Serie, in der die Künstlerin die im Verfahren angelegte Möglichkei­t der Modellieru­ng von Licht und Schatten nutzt, um die potenziell­e Bewegtheit des Dargestell­ten zu verstärken. Am deutlichst­en zeigt sich das an dem Bild Rei aus dem Jahr 2015, von dem man sich auch am stärksten an frühe Bewegungss­tudien von Eadweard Muybridge oder Marcel Duchamp erinnert fühlt.

Bis 23. 12. Galerie Hubert Winter Breite Gasse 17, 1070 Wien www.galeriewin­ter.at

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Ein Körper zwischen den Zeiten: Tina Lechners „Rei“(2015).
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Foto: Marko Lipus An vier Orten: Aleš Šteger erzählt von öffentlich­en Räumen.
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