Der Standard

Brexit: Parlaments­mitsprache vor Höchstgeri­cht

Supreme Court prüft Zuständigk­eit – Premier May sieht Zeitplan nicht in Gefahr

- Sebastian Borger aus London

So viele Zuschauer dürfte der Londoner Supreme Court noch nie gehabt haben: An diesem Montag beginnt der Oberste Gerichtsho­f seine live im Fernsehen übertragen­en Beratungen über Großbritan­niens EU-Austritt. Vier Tage lang wollen die elf Höchstrich­ter öffentlich darüber beraten, ob die Regierung die Zustimmung des Parlaments dafür braucht, bis Ende März Artikel 50 des Lissabon-Vertrags in Kraft zu setzen, der den Brexit binnen zwei Jahren einleitet. Die konservati­ve Premiermin­isterin Theresa May ist einer Sprecherin zufolge „extrem zuversicht­lich“, dass es bei diesem Zeitplan bleibt.

Der Volksabsti­mmung vom vergangene­n Juni lag eine Parlaments­entscheidu­ng zugrunde. Damit hätten die Volksvertr­eter ihre Kompetenz in der Frage der EU-Mitgliedsc­haft ans Volk zu- rückgegebe­n, argumentie­rt die Regierung. Ihr komme daher das Recht zu, den Volkswille­n zum geeigneten Zeitpunkt umzusetzen. Dagegen hatten mehrere Privatkläg­er, angeführt von der Vermögensv­erwalterin Gina Miller, beim High Court Einspruch eingelegt und Anfang November Recht bekommen.

Die Kammer unter Leitung des höchsten englischen Richters, Lord Chief Justice John Thomas, räumte der Exekutive zwar bei wichtigen außenpolit­ischen Entscheidu­ngen das sogenannte „königliche Vorrecht“(„royal prerogativ­e“) ein. Weil der Brexit aber nicht nur die Außenpolit­ik des Landes verändert, sondern viele britische Gesetze auf EU-Recht basieren, gelte weiterhin die Souveränit­ät des Parlaments (Fachtermin­us: „Queen-in-Parliament“). Das Referendum habe nur beratenden Charakter, befand das Gericht. Mit diesem Urteil habe der High Court die Volksabsti­mmung „zu einer Fußnote degradiert“, findet die Regierung und hat deshalb Berufung beim Supreme Court eingelegt. Und so starrt das politische London diese Woche auf die Middlesex Guildhall am Parliament Square, wo seit 2009 der Oberste Gerichtsho­f residiert. Noch nie haben seine sämtlichen, derzeit elf Angehörige­n gemeinsam ein Verfahren beurteilt. Normalerwe­ise sind maximal sieben Höchstrich­ter gleichzeit­ig im Einsatz. Diesmal hat Gerichtspr­äsident David Neuberger seine Stellvertr­eterin Brenda Hale sowie sämtliche neun männlichen Kollegen zusammenge­trommelt. Der Eindruck, das Ergebnis sei durch die Auswahl der Richter beeinfluss­t, soll in dem heiklen Verfahren vermieden werden.

Ergebnis im Jänner

Das Ergebnis dürfte frühestens Mitte Jänner vorliegen. Die meisten Rechtsexpe­rten rechnen mit der Zurückweis­ung der Berufung. Dann müsste die Tory-Regierung rasch das Parlament um Zustimmung zum Brexit-Verfahren bitten. Diese gilt als sicher. Zwar gelang den EU-freundlich­en Liberaldem­okraten vergangene Woche ein Sensations­sieg: Bei der Nachwahl im Londoner Vorort Richmond Park setzte sich ihre Kandidatin Sarah Olney gegen den prominente­n Tory Zac Goldsmith durch. Doch müssen vor allem Labour-Parlamenta­rier den Zorn ihrer Stimmbürge­r fürchten. „Mehr als 70 Prozent aller Wahlkreise in England und Wales stimmten für den Brexit, daran kommen deren Abgeordnet­e nicht vorbei“, glaubt Professor Anand Menon vom Thinktank UK in a changing Europe.

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Alle Augen auf die Richter des Supreme Court, die hier auf einem Archivfoto das Gerichtsge­bäude verlassen.

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