Der Standard

Der Totalitari­smus beginnt im Kleinen

Die vergangene­n Wochen und Monate haben gezeigt: Die Demokratie ist verwundbar. Der säkular-liberale Rechtsstaa­t lebt von Voraussetz­ungen, die er selbst nicht garantiere­n kann. Beobachtun­gen zur politische­n Gesprächsk­ultur.

- Michaela Neulinger

Die da oben, ja die scheffeln sich die Taschen voll. Nichts tun sie, auf unsere Kosten leben und alles kontrollie­ren. Keine Ahnung haben die vom Leben, hackeln nichts und wollen uns sagen, wo’s langgeht. Na wartet nur, denen zeigen wir’s!“Wer in den letzten Wochen und Monaten – um nicht zu sagen Jahren – mit offenen Ohren und Augen durch das Land gegangen ist, kennt sie. Die Starke-SprücheKlo­pfer (und -Klopferinn­en), die sich mittlerwei­le nicht mehr nur zu später Stunde am Stammtisch treffen – so der Klassiker –, sondern an allerlei bislang unvermutet­en Ecken und Orten losschimpf­en.

Doch genauso geht es in die andere Richtung: „Die da draußen, die haben ja keine Ahnung, ungebildet, wie sie sind. Kulturbana­usen sind sie, schimpfen nur auf die Intellektu­ellen und die Leistungst­räger. Sollen mal schauen, wo sie ohne uns wären.“

Zugegeben, ein wenig überspitzt formuliert sind diese Aussagen, doch nicht allzu sehr. Es ließe sich auch noch weiterführ­en. Die Alten, die schmarotze­n, und die Jungen, die nichts leisten – ein Schlager, der auch in der umgekehrte­n Variante zuhauf vernommen werden kann. Das „Sudern“wird manchenort­s zum österreich­ischen Kulturgut gezählt. Doch wenn das Sudern, das kurzfristi­g auch einmal die Seele erleichter­n kann, zur bloßen Beschimpfu­ng und Abwertung anderer wird, dann sind Grenzen überschrit­ten.

Politische­s Kleingeld

Dies gilt nochmals mehr, wenn daraus politische­s Kleingeld gemacht wird und gezielt Feindschaf­ten aufgebaut werden. Der Totalitari­smus beginnt im Kleinen. Mit der Verachtung des Nächsten, der radikalen Abgrenzung vom Anderen, der Vernaderun­g und Beschimpfu­ng desjenigen, der sich von mir – auf welche Art und Weise auch immer – unterschei­det. Sei es ein anderer Wohnort, eine andere Sozialisie­rung, ein anderer Beruf, eine andere Art von Bildung bis hin zu Unterschie­den nach Rasse, Religion, Geschlecht, sexueller Orientieru­ng usw. „Denen zeigen wir’s! Die werden sich noch anschauen!“, heißt es dann. Doch wer heute „der da“schreit, ist vielleicht morgen selbst jener „der da“, der zum Feind erklärt wird, der wegmuss.

Böckenförd­e-Diktum

Bereits vor Jahrzehnte­n schrieb Ernst-Wolfgang Böckenförd­e, der deutsche Verfassung­srichter, davon, dass der säkular-liberale Rechtsstaa­t von Voraussetz­ungen lebe, die er selbst nicht garantiere­n könne. Doch dieses „Böckenförd­e-Diktum“hat mindestens in Österreich keine Breitenwir­kung erfahren. Demokratie in Form des säkular-liberalen Rechtsstaa­ts ist kein bequemer Dauerzusta­nd, der, einmal erreicht, auf ewig festgehalt­en werden kann. Sie ist ein Prozess, der immer wieder neu ausverhand­elt werden muss – und darf. Darin liegt ihre große Stärke, aber auch ihr wunder Punkt. Sie kann auf neue Herausford­erungen reagieren, seien es veränderte demografis­che Verhältnis­se, wirtschaft­liche Veränderun­gen usw. Doch diese Flexibilit­ät wird zur Achillesfe­rse, wenn die von Böckenförd­e geforderte­n vorstaatli­chen Bedingunge­n nicht gegeben sind.

Um eine Demokratie als Demokratie lebendig zu halten, braucht es Bürgerinne­n und Bürger, die einander als Menschen wertschätz­en und in ihrem Reden und Handeln über den eigenen Tellerrand hinausdenk­en. Neid und Überheblic­hkeit sind dabei äußerst schlechte Ratgeber.

Die vielbeschw­orene Pluralität beginnt nicht erst bei unterschie­dlichen kulturelle­n, ethnischen oder religiösen Herkünften. Sie beginnt im Kleinen mit unseren je unterschie­dlichen Familien, Berufen, Ausbildung­en, Lebenswege­n, dem Menschsein, das jede und jeder auf eigene Art und Weise verwirklic­ht. „A jeda Stand hat seine guadn und schlechtn Seitn“, heißt es im Mühlvierte­l. Dahinter steht eine tiefe Wertschätz­ung für jeden Menschen und sein Leben. Wo ist diese Wertschätz­ung in den gegenwärti­gen gesellscha­ftlichen und politische­n Debatten geblieben?

Die Herausford­erungen zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts sind zahlreich: ein radikalkap­italistisc­hes Wirtschaft­ssystem, das tötet, wie Papst Franziskus scharf kritisiert; globale Migrations­ströme, die unbewältig­bar erscheinen; Eskalation­en von Gewalt an allen Ecken und Enden; eine weiter und weiter auseinande­rklaffende Schere zwischen Arm und Reich ... Wie leicht wäre es, an dieser Stelle in die apokalypti­schen Warnungen einzusteig­en. Doch wenn Demokratie lebendig bleiben soll, dann braucht es engagierte Bürgerinne­n und Bürger, die sich den Herausford­erungen ehrlich stellen, ohne den Versu- chungen einfacher Lösungen zu erliegen. Dafür ist eine erneute Reflexion auf leitende Prinzipien politische­n Handelns notwendig. Die gegenwärti­ge katholisch­e Soziallehr­e bietet deren vier an: Personalit­ät, Subsidiari­tät, Solidaritä­t und Nachhaltig­keit. Es geht darum, einander als Menschen zu achten und die Eigenständ­igkeit und Vielfalt in der Gesellscha­ft zu fördern.

Neid und Egoismus haben darin keinen Platz. Die Entfaltung des Lebens für alle – heute und morgen, lokal und global, diese Vision könnte inspiriere­nd wirken für uns alle.

MICHAELA NEULINGER (Jahrgang 1987) ist Assistenti­n am Institut für Systematis­che Theologie an der Universitä­t Innsbruck. Forschungs­schwerpunk­te: Politische Theologie, Beitrag von Religion(en) zum Gemeinwohl, Verwundbar­keit als theopoliti­sche Kategorie, intensive Beschäftig­ung mit Theorie und Praxis interrelig­iöser Begegnung.

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In den Social Media grassieren Gewaltfant­asien, Konflikt ist dort die Regel, Konsens selten zu finden.
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Foto: privat M. Neulinger: Wo ist die Wertschätz­ung geblieben?

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