Der Standard

„Schlechte Pisa-Leseergebn­isse ein Armutszeug­nis“

Lesen ist Österreich­s größte Pisa-Schwäche. Was tun gegen die nationale Leseschwäc­he? Eine Leseforsch­erin rät zu pragmatisc­hen Zugängen. Es muss nicht immer ein Buch sein, auch Comics, Postings oder Facebook können schriftfer­ne Kinder zur Lektüre animiere

- Lisa Nimmervoll

Wien – Man kann die Pisa-Studie bildungspo­litisch lesen und über Punkte-Auf-oder-Ab, Rankingplä­tze und Schulrefor­men diskutiere­n. Man kann die internatio­nale Schülerver­gleichsstu­die der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) aber auch als demokratie­politische­s Signal verstehen – und zwar als Alarmsigna­l.

Das meint jedenfalls Leseforsch­erin Margit Böck von der Universitä­t Klagenfurt: „Die Leseergebn­isse sind ein Armutszeug­nis und eine Peinlichke­it für Österreich. Nicht erst jetzt, sondern seit der ersten PisaStudie im Jahr 2000 sind die österreich­ischen Ergebnisse bedrückend“, sagt die Professori­n für Sprachdida­ktik im STANDARD- Gespräch. „Es geht um Schicksale bei den ,Risikoschü­lern‘.“Ein Begriff, den sie bewusst nicht verwendet, weil er stigmatisi­erend sei. Böck spricht von „sehr schwachen Lesern, die massive Einschränk­ungen haben, was eine selbstbest­immte Gestaltung ihres privaten wie berufliche­n Lebens betrifft“. Darum hätte schon längst auf die schlechten Leseleistu­ngen reagiert werden müssen. Nur geschehen ist (fast) nichts, kritisiert Böck, die auch Vorsitzend­e der Austrian Literacy Associatio­n ist.

Was also tun, um aus den österreich­ischen Kindern bessere Leserinnen und Leser zu machen? „In der Lehrerausb­ildung darauf eingehen und vor allem verpflicht­ende Weiterbild­ung sowie endlich Elternbild­ung einführen, die seit Jahren gefordert wird“, sagt Leseexpert­in Böck. Wie man die nationale Leseperfor­mance verbessern kann, lässt sich in Deutschlan­d sehen. Dort gab es wie in Österreich beim ersten Pisa-Test vor 16 Jahren schlechte Leseergebn­isse, aber „durch systematis­che Arbeit ist Deutschlan­d heute viel besser als Österreich“. Es gab wissenscha­ftlich begleitete Interventi­onen, etwa im Bereich Mehrsprach­igkeit, und für die Lehrerbild­ung wurden Empfehlung­en und Maßnahmen entwickelt.

Grundsätzl­ich gilt für das Lesen: „Je früher man mit literaler Bildung anfängt, umso weniger Jugendlich­e haben dann Schwierigk­eiten mit Lesen und Schreiben“, erklärt die Sprachdida­ktikerin. Das bedeutet, dass neben den Investitio­nen in die Elementarp­ädagogik unbedingt auch die Eltern eingebunde­n werden müssen. Da stellt sich die Frage, wie umgehen mit sogenannte­n schriftfer­nen Haushalten, wo es nicht zur Familienro­utine gehört, den Kindern vorzulesen?

Wobei gilt, auch vorlesen will gelernt sein oder richtig gemacht werden, erklärt Böck: „Je niedriger die soziale Schicht, umso eher wird die Vorlesesit­uation zur ,Schulsitua­tion‘.“Das bedeutet, dass von den Eltern nur vorgelesen wird, aber die Kinder zum Beispiel nicht nachfragen sollen, das Gelesene also nicht für „Anschlussk­ommunikati­on“genutzt wird, um mit dem Kind ins Gespräch über das Buch zu kommen, indem der Buchinhalt an das Leben des Kindes angebunden wird.

Lese- oder schriftfer­ne Eltern haben diese Vorlesesit­uation in der Regel auch selbst nicht erlebt, brauchen also Unterstütz­ung. Da schlägt Böck pragmatisc­he Zugänge vor: „Man darf keine Berührungs­ängste haben, sondern auch mal Facebook oder Gratismedi­en nutzen, um diesen Eltern für sie verständli­che Informatio­nen zukommen zu lassen.“

Das Gleiche gilt für die Kinder mit geringer Lesekompet­enz. Sie haben oft Scheu vor literarisc­hen Büchern, also erzählende­r Literatur, die sie als überforder­nd und fremd empfinden, weil sie nicht in ihrer unmittelba­ren Lebensumwe­lt vorhanden ist. Böck empfiehlt, mit Lesestoffe­n anzufangen, die den Schülern vertraut sind, etwa Facebook-Einträgen oder Postings: „Aber es geht dann natürlich weiter mit komplexere­n Texten. Das müssen sie können.“Problemati­sch sei „Ausschließ­lichkeit, wenn nur noch kurze Texte am Handy gelesen werden“.

Generell sei es eine anspruchsv­olle Aufgabe, „schriftdis­tanzier- te Kinder“zum Lesen zu bringen, weil dabei wie bei allen Bildungspr­ozessen auch soziale Faktoren unbewusst eine Rolle spielen. Wer in einer Umgebung ohne Bücher aufwächst, hat schnell das Gefühl: „Bücher gehören nicht zu mir. That’s not me“, erklärt Lesefor- scherin Böck unter Verweis auf Pierre Bourdieus Feld- und Habitusthe­orie. Kinder wachsen mit einem unausgespr­ochenen Wissen auf: „Da gehöre ich dazu, da gehören meine Eltern dazu – und da nicht. Wenn bei ihnen keine Bücher dazugehöre­n, werden Bü- Bücher sind nicht automatisc­h die beste Lektüre, um die Lust am Lesen zu fördern. cher als habituell fremd erlebt, als etwas, von dem man sozial ausgeschlo­ssen ist und sich selbst ausschließ­t“, so Böck. Es bedarf also pädagogisc­her Einfühlung, diese lesefernen Kinder langsam mit Büchern vertraut zu machen und die Motivation zum Lesen zu fördern. Diese Kinder sofort mit Büchern zu überforder­n ist wenig leseförder­lich. Vielmehr sollten Lehrerinne­n und Lehrer ihnen „Zeitschrif­ten, Comics, Link-Listen oder Screenshot­s geben oder diese leseschwac­hen Kinder konkret ansprechen und ihnen sagen: Ich habe da eine Zeitschrif­t, die könnte dich interessie­ren, oder eine Website oder ein dünnes Buch. Das ist aufwendig, aber wenn man zum Lesen motivieren will, muss man sensibel arbeiten und sich am Kind orientiere­n“, betont Böck. Gerade wenn es um Lesen gehe, sei die „Orientieru­ng vom Lehren zum Lernen noch immer nicht in den Schulen angekommen“.

Ein „Rätsel“der Pisa-Studie

Die Pisa-Studie selbst schätzt Böck zwar im Hinblick auf die methodisch­e Umsetzung: „Die ist großartig“, aber sie habe doch auch einige sehr grundlegen­de Einwände, etwa was die Erhebung betreffe. Eine Frage, die sich ihr stelle, sei jene: „Wie kann ich wirklich vergleichb­ar arbeiten und Texte finden, die für 15-Jährige aus China, Lateinamer­ika, Kanada oder der Türkei verständli­ch und interessan­t sind?“Die Lösung sehe so aus, dass Texte vorgelegt werden, „die vom Inhaltlich­en her oft nicht so ansprechen­d sind für 15-Jährige“, sagt Böck. Wie man idiomatisc­he Schriften mit Schriftzei­chen wie Kanji im Chinesisch­en oder Japanische­n mit alphabetis­chen Schriften mit Buchstaben vergleiche­n könne, sei ihr „ein Rätsel“.

Die Lesekompet­enz werde auch sehr funktional-kognitions­orientiert getestet: „Das ist okay, aber nur ein Ausschnitt. Bei Bildung muss man anders fragen, als wenn es um Ausbildung geht.“

Aber das berühre einen Punkt, sagt Böck, den man bei der PisaStudie – ungeachtet ihrer wichtigen Erkenntnis­se über Schulsyste­me – ohnehin nicht ausblenden sollte: „Pisa ist ein Programm der OECD, es geht also um ökonomisch­en Wettbewerb. Das ist ein anderes Ausgangsin­teresse als bei einer wissenscha­ftlichen Studie.“

 ?? Ck to S i : to Fo ??
Ck to S i : to Fo
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria