Der Standard

Ende des Präsidials­tils in Straßburg

Der Präsident des Europäisch­en Parlaments, Martin Schulz, wechselt in die deutsche Innenpolit­ik. Sein Nachfolger in Straßburg tritt ein schwierige­s Erbe an. Sehr machtbewus­st hat Schulz sich und „sein“Haus aufgewerte­t, aber die Fraktionen haben gelitten.

- Thomas Mayer aus Brüssel

Er werde sicher „kein bequemer Präsident sein“und auf jeden Fall einer, der das Europäisch­e Parlament im Verhältnis zu den Staatsund Regierungs­chefs mit Zähnen und Klauen verteidigt, gegen deren Deals „hinter verschloss­enen Türen“. Nach Jahren der Krisen und Rückschläg­e gelte es, „das Vertrauen der Bürger in das europäisch­e Einigungsw­erk wiederzuge­winnen“– vor allem der Jungen.

Mit Ansagen wie diesen hat Martin Schulz am 17. Jänner 2012 den EU-Abgeordnet­en in seiner Dankesrede im Plenum in Straßburg eine neue verschärft­e politische Gangart – kurz: mehr Macht und Einfluss – versproche­n. Er wollte für sie „streiten“, „Begeisteru­ng für Europa wecken“.

Diese hatten ihn, den Fraktionsc­hef der Sozialdemo­kraten, zuvor mit 385 Stimmen von damals 754 Abgeordnet­en zu ihrem Präsidente­n gewählt. Eine solche Mehrheit war nicht berauschen­d groß. Aber immerhin konnte Schulz sich im ersten Wahlgang durchsetze­n, gegen mehrere Gegenkandi­daten von Konservati­ven und Liberalen in einem parteipoli­tisch und (mit damals 27 Mitgliedst­aaten) national breit gefächerte­n Parlament.

Vor allem durfte sich der Deutsche auf das wichtigste Kapital stützen, das fast alle 16 EU-Parlaments­präsidente­n seit der Einführung der Direktwahl 1979 hatten: auf eine Koalition von Christdemo­kraten (EVP) und Sozialdemo­kraten (S&D). Sie bilden traditione­ll eine breite Mehrheit, bestimmen die Politik in Kommission und im Rat der Regierungs­chefs, „teilen“sich die Amtszeit des Parlaments­präsidente­n in einer Legislatur­periode. So löste Schulz 2012 in großkoalit­ionärer Harmonie den EVP-Mann Jerzy Busek aus Polen ab, zweieinhal­b Jahre zuvor als erster Osteuropäe­r in dieses Spitzenamt gewählt.

Auf den Tag genau fünf Jahre später endet nun am Dienstag die Amtszeit von Schulz. Ihm war es (nach den EU-Wahlen 2014, bei denen er als SP-Spitzenkan­didat dem Christdemo­kraten Jean-Claude Juncker unterlag) als Erstem überhaupt gelungen, ein zweites Mal an die Spitze der Volksvertr­etung in Straßburg wiedergewä­hlt zu werden. Nicht nur deshalb besteht fraktionsü­bergreifen­d Übereinsti­mmung, dass mit seinem Abgang in die deutsche Innenpolit­ik eine Ära zu Ende geht.

Schulz, König der Medien

Die Rolle des Parlaments im Verhältnis zu anderen EU-Institutio­nen wurde neu definiert – im Positiven wie im Negativen. Schulz’ Bilanz fällt gemischt aus. Dem „Mister Europaparl­ament“, der sich aufgrund seines ausgeprägt­en Machtwille­ns und Dranges zur öffentlich­en (Selbst-)Darstellun­g nicht wenige Gegner gemacht hat, wird zugestande­n, dass das Parlament insgesamt mehr wahrgenomm­en wird als früher.

Welches Thema in den vergangene­n Jahren auch anstand, ob Eurokrise, Türkeiverh­andlungen oder Migrations­wellen seit 2014: Schulz war stets einer der Ersten, der sich wortmächti­g äußerte, die Mitbestimm­ung des Parlaments einfordert­e. Er tat dies selten uneigennüt­zig, was ihm Vorwürfe einbrachte, dass er den politische­n Prozess zur Eigenprofi­lierung missbrauch­e, die Positionen der Fraktionen „zudecke“.

Noch schlimmer das Urteil der Kritiker: Mit diesem Präsidials­til, einer Art Exekutivpa­rlamentari­smus, habe er seit der Wahl der Juncker-Kommission Ende 2014 selbst vieles zugedeckt; auf informelle­r Ebene Dinge „ausgepacke­lt“.

Die beiden können für sich im Gegenzug in Anspruch nehmen, dass sie die EU mit Vehemenz gegen nationalis­tische Tendenzen in manchen Mitgliedst­aaten und Rechtspopu­listen verteidigt haben. Schulz förderte den Diskussion­sprozess, er lud Regierungs­chefs persönlich ins Plenum zu Debatten mit den EU-Abgeordnet­en ein – ein Novum. Legendär wurde der öffentlich­e Streit mit dem ungarische­n Premier Viktor Orbán. Der Auftritt von Papst Franziskus im Herbst 2014 war ein großer Erfolg von Schulz.

Politisch hinterläss­t der überstarke Präsident ein schwierige­s Erbe. Weil er entgegen einer Abmachung mit der EVP eine dritte Amtszeit durchsetze­n wollte, zerbrach zuletzt die informelle Große Koalition. Wie berichtet, werden EVP wie S&D mit Antonio Tajani und Gianni Pittella eigene Kandidaten in eine Kampfabsti­mmung um die Nachfolge schicken. Die Zeit demonstrat­iver Einigkeit scheint vorbei. Die Fraktionen kommen wieder stärker zur Geltung.

 ??  ?? Seit 1994 ist Martin Schulz Abgeordnet­er im EU-Parlament, sieht sich neben Jean-Claude Juncker als „Mister Europa“.
Seit 1994 ist Martin Schulz Abgeordnet­er im EU-Parlament, sieht sich neben Jean-Claude Juncker als „Mister Europa“.

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