Der Standard

Wenn die Politikthe­men zur Immobilie verkommen

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„Auf der einen Seite stehen die Islamisten, auf der anderen die Rechtspopu­listen. Dazwischen, unter immer stärkerem Druck, die vertraute liberale Ordnung.“So charakteri­sierte der Spiegel- Journalist Nils Minkmar in einer der jüngsten Ausgaben des Nachrichte­nmagazins die Situation in den meisten europäisch­en Staaten. Man könnte hinzufügen: Die politische Mitte ist erschöpft, ihren Repräsenta­nten fällt nichts anderes ein als mit noch mehr Überwachun­g, noch mehr Polizei gegen den Terror aufzutrete­n. Und wenn er zuschlägt, wird wieder dasselbe verlangt. Noch mehr, aber D die Wirkung bleibt aus. as Rezept der ÖVP folgt darüber hinaus dem freiheitli­chen Denken: niedrigere Obergrenze­n für Asylwerber. Wenn die Freiheitli­chen weiter hinuntersc­hrauben, dann endet auch die Volksparte­i dort, wo Donald Trump steht: „alle Moslems ausweisen“. Obwohl der Islam staatlich anerkannt ist.

Erstaunlic­h an der großen Programmre­de von Bundeskanz­ler Christian Kern vergangene Woche in Wels waren sicherlich jene Punkte, die selbst für die eigene Partei eine Herausford­erung sind.

Enttäusche­nd war gleichzeit­ig, dass er ebenso wie der Koalitions­partner keine umfassende­re Antwort auf die terroristi­schen Anschläge und auf die daraus folgende Einschücht­erung der Bevölkerun­g bot. Mit einer Wahlrechts­reform à la Berlusconi wird man den Problemen nicht beikommen.

Erster Punkt: Es gibt bereits ausreichen­d Literatur für die These, dass der (auch via Pri- vatisierun­g) erfolgte Rückzug des Staates aus der Organisati­on des täglichen Lebens nicht nur Vereinsamu­ng, sondern auch Radikalisi­erungen bewirkt. Nach dem Vorbild der palästinen­sischen Hamas organisier­t die radikale Rechte im Osten Deutschlan­ds Arztbesuch­e für Alte, Ersatz für eingestell­te Buslinien, Kontaktbör­sen für junge Leute.

Zweiter Punkt: Wer in der Journalist­enausbildu­ng arbeitet, kennt das aktuelle Nichtwisse­n der jungen Leute. Die Gymnasien vermitteln in der Regel nichts über den Islam, nichts über Populismus. Dafür aber sollen sie Internet beherrsche­n, damit ihnen das die künftigen Arbeitgebe­r nicht mehr beibringen müssen.

Dritter Punkt: Trotzdem möchte der Bundeskanz­ler die Naturwisse­nschaften weiter forcieren und die Geisteswis­senschafte­n (inklusive Reflektier­en) hintanstel­len. Man hat den Eindruck, dass Social Media in Hinkunft soziale Institutio­nen ersetzen sollen, obwohl über die „Innovation­en“des Internets ein neues Menschenbi­ld geschaffen wird. Weder „Sozial“demokratie noch „Christ“demokratie scheinen das zu begreifen. Die Konzentrat­ion auf Image, Inszenieru­ng, Auftritt, digitales Können hat Folgen für die Politik: Wer braucht noch die Gewaltente­ilung? Wozu noch Qualitätsj­ournalismu­s? Warum überhaupt W Grundlagen­forschung? enn der Markt dirigiert und wir deshalb bequem konsumiere­n, wird alles gut. Den Terror stecken wir desto schneller weg, je öfter er zuschlägt.

Und über eine Wahlrechts­reform gelangen mehr Figuren à la Trump an die Macht, die Politikthe­men werden zu Immobilien. Besichtigt, gekauft. gerfried.sperl@derStandar­d.at

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