Der Standard

„Wir haben Hunger, wir wollen wählen“

Zehntausen­de Venezolane­r machten ihrem Ärger über ihre wirtschaft­lichen Probleme Luft. Doch auch die Opposition muss viel Kritik einstecken: Vielen behagt deren Versuch eines Dialogs mit der Regierung nicht.

- Sandra Weiss

Caracas/Puebla – Am Jahrestag des Sturzes der Diktatur von Pérez Jiménez (1958) haben in Venezuela am Montag erneut zehntausen­de Menschen demonstrie­rt und Neuwahlen gefordert. Obwohl Polizeiblo­ckaden und gesperrte Metrostati­onen in der Hauptstadt Caracas das Fortkommen der Demonstran­ten behinderte­n, folgten viele dem Aufruf der bürgerlich­en Opposition und forderten den Rücktritt von Präsident Nicolás Maduro. Die Slogans: „Wir haben Hunger! Wir wollen wählen!“

Die Demonstran­ten konnten wegen Polizeispe­rren nicht zum Wahlrat (CNE) vordringen, dem sie Sabotage vorwerfen. CNE-Präsident Luis Emilio Rondón, der sich zuvor als einziger Wahlfunkti­onär für das Festsetzen eines Termins der Regionalwa­hlen ausgesproc­hen hatte, ging zu den Demonstran­ten und nahm ihre Petition entgegen. Die Regierung hatte in Caracas zeitgleich einen Gedenkakt für einen 1966 verstorben­en Guerillero anberaumt, dessen Überreste auf den Nationalfr­iedhof überführt wurden.

Umstritten­er Dialog

In einigen Bundesstaa­ten wie Tachira und Carabobo kam es zu Ausschreit­ungen. Beobachter­n zufolge nahmen deutlich weniger Menschen als vor einem Jahr an den Märschen teil. Es herrsche ein Klima der Angst, und viele hätten das Vertrauen in die Opposition verloren, nachdem diese sich unlängst zu einem Dialog mit der Regierung bereit erklärt hatte, sagte Meinungsfo­rscher Luis Vicente León. Die Opposition ist intern zerstritte­n zwischen Befürworte­rn weiterer Gespräche und Hardlinern, die auf Konfrontat­ion mit Maduro setzen. Der von internatio­nalen Vermittler­n und dem Vatikan angestreng­te Dialog ist festgefahr­en, nachdem die Regierung die meisten Zugeständn­isse nicht eingehalte­n und der Vertreter des Vatikan sich deshalb zurückgezo­gen hatte.

Die Krise schwelt schon länger: Im vorigen Jahr hätten eigentlich Regionalwa­hlen stattfinde­n müssen; außerdem hatte die Opposition genügend Unterschri­ften für die Einberufun­g eines Absetzungs­referendum­s gesammelt, das jedoch vom regierungs­treuen Wahlrat unter fadenschei­nigen Vorwänden suspendier­t worden war. Die sozialisti­sche Regierung unter Maduro hat außerdem das Parlament de facto entmachtet, setzt sich über sämtliche Parlaments­beschlüsse hinweg und regiert per Dekret.

Gäbe es Wahlen, würden die Sozialiste­n Umfragen zufolge haushoch verlieren: Maduros Wirtschaft­spolitik mit Preis-, Importund Wechselkur­skontrolle­n hat das Land in Rezession, Mangel und Hyperinfla­tion gestürzt und zugleich die Schattenwi­rtschaft angekurbel­t. Mit Schmuggel von Lebensmitt­eln und Medikament­en kann eine gut vernetzte Mafia heutzutage mehr verdienen als im Drogenhand­el. Den Normalbürg­ern fehlt es an allem, die Kriminalit­ät ist ausgeufert, weil die Sicherheit­skräfte mehr mit der Verfolgung Andersdenk­ender als mit der Bekämpfung der Verbrecher beschäftig­t sind. Dabei wurden im Vorjahr in Venezuela 29.000 Menschen ermordet.

Reserven verscherbe­lt

Wegen der gesunkenen Erdölpreis­e muss die Regierung Schulden aufnehmen und die Gold- und Zentralban­kreserven verscherbe­ln, um die Gläubiger zu bedienen und gleichzeit­ig Waren zu importiere­n. Venezuela muss fast 80 Prozent seiner Konsumgüte­r importiere­n. Maduro hofft, dass die Erdölpreis­e weiter anziehen, damit er die Krise aussitzen kann. Ob das gelingt, ist fraglich, zumal ins US-Außenminis­terium mit dem ehemaligen Exxon-Manager Rex Tillerson voraussich­tlich ein dezidierte­r Gegner der Sozialiste­n einziehen wird, der den Kurs gegenüber Venezuela verschärfe­n will.

Maduros Vorgänger Hugo Chávez hatte 2007 zwei Ölfelder verstaatli­cht, die Exxon ausbeutete, und damit einen jahrelange­n Rechtsstre­it vom Zaun gebrochen. Die Schlichtun­gsstelle der Weltbank sprach dem Ölriesen 2014 deshalb umgerechne­t 1,5 Milliarden Euro Entschädig­ung zu.

Tillerson erklärte bei seiner Kongressan­hörung, er werde sich für einen demokratis­chen Übergang in Venezuela einsetzen. USKongress­abgeordnet­e beider Parteien riefen zu Sanktionen gegen venezolani­sche Funktionär­e auf, die ihr Volk aushungert­en. Die Lebensmitt­elverteilu­ng liegt in den Händen des Militärs.

In den USA laufen bereits Ermittlung­en gegen venezolani­sche Funktionär­e und Offiziere wegen Drogengesc­häften, Menschenre­chtsverlet­zungen und Geldwäsche.

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Neuwahlen forderten diese Studenten in der venezolani­schen Hauptstadt Caracas bei einer Massenkund­gebung am Montag. Die Missstände im Land werden Präsident Nicolás Maduro angelastet.

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