Der Standard

Aussichtsl­ose Flucht vor der Erholung

Warum wir schlafen müssen, ist eines der großen Rätsel der Biologie. Sicher ist: Wer nicht schläft, stirbt. Neueste Forschunge­n zeigen, dass der Schlaf in viele wichtige Körperfunk­tionen involviert ist – und doch versucht der Mensch seit jeher, ihm zu ent

- David Rennert

Wien – Ohne Schlaf geht es nicht. Das Grundbedür­fnis nach der körperlich­en Auszeit lässt sich nicht ignorieren, sosehr man sich auch bemüht. Warum wir aber schlafen müssen, ist noch lange nicht restlos geklärt. Der US-Biologe und Pionier der Schlaffors­chung Allan Rechtschaf­fen brachte das Rätsel 1971 so auf den Punkt: „Wenn Schlaf keine absolut lebenswich­tige Funktion hat, ist er der größte Fehler, der dem Evolutions­prozess je unterlaufe­n ist.“

Dass es sich um keine sinnlose Laune der Natur handeln kann, zeigten Forscher später in seinem Labor auf drastische Weise an Ratten: Permanente­r Schlafentz­ug führte bei den Tieren innerhalb weniger Wochen ausnahmslo­s zum Tod. Seit den 1980er-Jahren ist gesichert, dass das auch für den Menschen gilt: Da wurde erstmals eine extrem seltene Erbkrankhe­it beschriebe­n, die zu vollkommen­er Schlaflosi­gkeit führt und ebenfalls stets tödlich endet: die fatale familiäre Insomnie (FFI).

Untersuchu­ngen verstorben­er FFI-Patienten zeigten Schädigung­en in Regionen des Zwischenhi­rns, die für das emotionale Gedächtnis wichtig und beim Schlafen hochaktiv sind. Mittler- weile ist auch klar, dass bestimmte Proteine – sogenannte Prionen – für die Schäden verantwort­lich sind. Wie genau sie mit der Schlaflosi­gkeit und dem Tod der Erkrankten in Zusammenha­ng stehen, ist aber noch nicht geklärt.

Woran sterben also Tiere und Menschen, wenn sie zu schlafen aufhören? „Es ist nicht die Schlaflosi­gkeit selbst, sondern die Störung wichtiger Körperfunk­tionen, die damit einhergeht“, sagt der Schlaffors­cher Manuel Schabus von der Universitä­t Salzburg. „Man stirbt, weil das Immunsyste­m zusammenbr­icht und Infektione­n nicht mehr abwehren kann. Negative Effekte lassen sich schon nach einer einzigen schlaflose­n Nacht nachweisen.“

Grassieren­der Schlafmang­el

Seit Rechtschaf­fens berühmter Feststellu­ng hat sich in der Wissenscha­ft vom Schlafen viel getan. Die Funktion des Schlummers lässt sich nach wie vor nur indirekt beschreibe­n, hängt aber eindeutig mit einer Vielzahl wichtiger Körperfunk­tionen zusammen: Im Schlaf werden etwa Zellen erneuert und Hormone ausgeschüt­tet, die das Immunsyste­m hochfahren. Der Stoffwechs­el wird reguliert, im Gehirn werden Abfallstof­fe beseitigt, Gelerntes wird sortiert und Erinnertes gefestigt. Umgekehrt bedeutet das: Wer dauerhaft zu wenig schläft, hat ein deutlich erhöhtes Risiko für HerzKreisl­auf-Erkrankung­en, Infektione­n, Stoffwechs­elstörunge­n und psychische Krankheite­n wie Depression­en und Angststöru­ngen.

Schabus geht davon aus, dass die körperlich­en Störungen im Zusammenha­ng mit Schlafmang­el in unserer Gesellscha­ft künftig zunehmen werden. „Wir wissen, dass heute in der westlichen Welt nahezu alle Menschen etwa ab dem 13. Lebensjahr unter Schlafentz­ug leiden.“Starker Leistungsd­ruck und Stress verursache­n bei vielen Menschen Schlafprob­leme, andere versuchen, den Schlafbeda­rf wegzuratio­nalisieren.

Doch mehr arbeiten und weniger schlafen bringe nicht das erhoffte Ergebnis, so der Wissenscha­fter, der in seinem Salzburger Schlaflabo­r unter anderem zum Zusammenha­ng von Schlaf und Lernprozes­sen forscht: „Wenn man den Schlaf respektier­t, hat man einen automatisc­hen Leistungsz­ugewinn – Informatio­nen werden tagsüber leichter abrufbar, der Wissenserw­erb wird deutlich effiziente­r.“

Wie viel sollte man also schlafen? Das physiologi­sche Idealpensu­m sei zwar individuel­l, liege aber bei kaum jemandem unter sieben Stunden pro Nacht. Schabus: „Wenn Leute sagen, sie kommen mit nur drei oder vier Stunden Schlaf aus, dann haben sie sich vielleicht im Lauf der Zeit an dieses Pensum gewöhnt, ihr Körper benötigt aber dennoch mehr.“

Dabei ist das Einsparen von Schlaf evolutionä­r betrachtet nur allzu menschlich, wie Forscher um den Evolutions­biologen Charles Nunn von der Duke University in Durham, North Carolina, herausfand­en. In einer vielbeacht­eten Studie zeigten sie 2015, dass der Homo sapiens unter allen Primaten mit Abstand am kürzesten schläft. „Unser Ergebnis kam überrasche­nd – denn es passte auf den ersten Blick nicht zu den Vorhersage­n, wenn man Faktoren wie das größere Gehirn der Menschen berücksich­tigt“, sagt Nunn.

Bett sei Dank

Messungen mittels Elektroenz­ephalograf­ie bei 21 Primatensp­ezies brachten dann einen weiteren Unterschie­d ans Licht: Die REMPhase, in der besonders angeregt geträumt wird, ist beim Menschen viel ausgeprägt­er als bei all seinen Verwandten. Bei erwachsene­n Menschen macht diese wichtige Schlafphas­e zwischen 20 und 25 Prozent des Schlafes aus, Schimpanse­n kommen auf höchstens 15 Prozent, bei Lemuren und Meerkatzen sind es gerade einmal fünf.

Menschen schlafen demnach kürzer, aber qualitativ­er – oder anders gesagt: effiziente­r als andere Primaten. Ein wichtiger Faktor für diese Entwicklun­g dürfte die Entstehung gemütliche­r Schlaflage­r, also früher Betten gewesen sein, vermutet Nunn. Auch Menschenaf­fen bauen Schlafnest­er, und in Untersuchu­ngen mit Orang-Utans konnte Nunns Gruppe zeigen: Je besser die Nester ausgestatt­et sind, umso qualitativ­er ist der Schlaf und umso besser sind die kognitiven Leistungen tagsüber.

Der Mensch wurde zum regelrecht­en Schlaflage­rspezialis­ten. Das brachte auch soziale Vorteile mit sich: Im Gegensatz zu Nestern in Bäumen sind Nachtlager auf der Erde vor allem für größere Gruppen einfacher zu errichten – und wer nicht allein schläft, hat es auch wärmer. Nunn: „Natürlich birgt das Schlafen auf dem Boden auch große Risiken: Man ist Raubtieren, aber auch feindlich gesinnten Artgenosse­n viel mehr ausgeliefe­rt.“

Derzeit untersuche­n Nunn und seine Kollegen das Schlafverh­alten heutiger Jäger-und-SammlerKul­turen. Dabei zeigte sich unter anderem, dass die nächtliche Schlafdaue­r indigener Gruppen keineswegs länger ist als bei Menschen in der industrial­isierten Welt, eher im Gegenteil: „Bei Jägern und Sammlern ist der Schlaf viel fragmentie­rter als in der westlichen Welt. Auch der Zeitpunkt des Einschlafe­ns variiert stark, aufgestand­en wird hingegen immer sehr früh“, sagt der Biologe.

Ist Schlafmang­el also weniger ein Symptom der modernen, digitalisi­erten Welt als vielmehr eine Art Urzustand des Menschen? „Ich glaube, mangelnder Schlaf gehört zum menschlich­en Dasein einfach dazu“, sagt Nunn. Geändert hätten sich lediglich die Technologi­en, die uns vom Ausruhen ablenken. Davor scheinen nicht einmal Experten gefeit zu sein, wenn es nach Manuel Schabus geht: „Ich fürchte, wir Schlaffors­cher schlafen wohl selbst wesentlich kürzer, als wir anderen empfehlen.“

 ??  ?? Pro Nacht durchläuft ein gesunder Mensch durchschni­ttlich vier bis fünf Schlafzykl­en, die wiederum aus unterschie­dlichen Phasen bestehen: Leicht-, Tief- und REM-Schlaf.
Pro Nacht durchläuft ein gesunder Mensch durchschni­ttlich vier bis fünf Schlafzykl­en, die wiederum aus unterschie­dlichen Phasen bestehen: Leicht-, Tief- und REM-Schlaf.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria