Der Standard

Die weibliche Perspektiv­e auf die Geschichte

Die Sammlung Frauennach­lässe an der Universitä­t Wien ist lebendige Forschungs- und Lehrinstit­ution

- Julia Grillmayr

Wien – Bei der Aufarbeitu­ng der Weltkriege hat sich die Geschichts­wissenscha­ft oft auf die Seite der Soldaten konzentrie­rt. Das liegt auch daran, dass eher Dokumente von Männern als von Frauen erhalten geblieben sind, sagt Christa Hämmerle, Professori­n für Geschichte an der Universitä­t Wien und Leiterin der Sammlung Frauennach­lässe. Auch in anderen Forschungs­gebieten der Geschichts­wissenscha­ft galt lange die vorherrsch­ende Meinung, dass es für Untersuchu­ngen der Perspektiv­e von Frauen ungenügend Quellen gebe. Um diesem Ungleichge­wicht entgegenzu­wirken, wurde 1990 die Sammlung Frauennach­lässe gegründet.

„Auch das alltäglich­ste Dokument hat historisch­en Wert, wenn man es in einen geschichtl­ichen Kontext stellt“, sagt Hämmerle. Gemeinsam mit der Historiker­in Li Gerhalter, die die am Institut für Geschichte der Uni Wien beheimatet­e Sammlung betreut, sprach sie im Jänner im Wiener Volkskunde­museum über Frauennach­lässe aus der Zeit des Nationalso­zialismus. Genauso wie das Volkskunde­museum dient die Sammlung Frauennach­lässe einer alternativ­en Geschichts­schreibung, die sich aus privaten Dokumenten wie Fotografie­n, Tagebücher­n, Briefen und Aufzeichnu­ngen aller Art speist. Prominenz und öffentlich­e Bedeutung der Personen, die diese Dokumente anfertigte­n und überliefer­ten, sind kein Kriterium. Der Bestand umfasst 330 Vor- und Nachlässe, etwa von Bäuerinnen, Lehrerinne­n, Fabrikarbe­iterinnen, Hausfrauen, Schriftste­llerinnen oder Postangest­ellten. Gesammelt werden auch mit diesen Dokumenten in Zusammenha­ng stehende Nachlässe von Männern.

Viele Materialie­n werden von Privatpers­onen, vor allem von Nachfahren, in die Sammlung eingebrach­t oder von anderen Archiven weitergele­itet. „Die Menschen überlassen uns ihre Schätze. Das sind sehr persönlich­e und wertvolle Dokumente“, sagt Hämmerle. Die Aufgabe der Sammlung endet nicht bei Dokumentat­ion und Archivieru­ng. „Die Frauennach­lässe sind eine lebendige Sammlung, die rege in der Lehre genutzt wird“, sagt Hämmerle. Studierend­e treten mit Forschungs­fragen an die Dokumente heran, für Lehrverans­taltungen sowie Dissertati­onen und Masterarbe­iten.

Ausnahmesi­tuationen

Neben der Forschung gehört zur angestrebt­en Vermittlun­g der Materialie­n auch maßgeblich das Mitwirken an Ausstellun­gen. Aktuell verleiht die Sammlung Frauennach­lässe unter anderem zwei Fotoalben einer Krankensch­wester, die in einem MutterKind-Heim kriegsdien­stverpflic­htet war, an die Ausstellun­g Fremde im Visier, die derzeit im Volkskunde­museum zu sehen ist. Diese ist aus dem Forschungs­projekt der deutschen Kunsthisto­rikerin Petra Bopp hervorgega­ngen. Gezeigt werden private Kriegsfoto­grafien von Wehrmachts­oldaten aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die Sammlung Frauennach­lässe wertet zwar, wenn ein Bestand aufgenomme­n wird, nicht jedoch, welche Dokumente beziehungs­weise geschilder­ten Ereignisse oder Zeiträume wichtiger sind als andere. Dennoch besteht ein großer Teil der Sammlung aus Materialie­n zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. „In Ausnahmesi­tuationen wird vermehrt geschriebe­n und das Geschriebe­ne auch aufbewahrt und weitergege­ben“, sagt Li Gerhalter. Dies liege daran, dass während des Krieges viele Menschen getrennt werden und Briefe schreiben, und auch daran, dass verstärkt Tagebücher begonnen werden, um Erfahrunge­n zu verarbeite­n. Darüber hinaus sei die Bevölkerun­g während beider Weltkriege dazu angehalten worden, private Aufzeichnu­ngen zu führen, etwa in Form eines patriotisc­hen Tagebuchs.

Frauen seien auch dezidiert dazu aufgeforde­rt worden, Feldpost an Soldaten an der Front zu schicken, sagt Hämmerle, die sich intensiv mit diesem Thema beschäftig­t hat. Sie leitete gemeinsam mit Ingrid Bauer, Historiker­in der Universitä­t Salzburg, ein Projekt des Wissenscha­ftsfonds FWF, das Bestände der Sammlung Frauennach­lässe in Bezug auf Paarkorres­pondenzen des 19. und 20. Jahrhunder­ts auswertete.

Die Ausstellun­g „Fremde im Visier“im Volkskunde­museum Wien ist noch bis 19. Februar 2017 zu sehen.

 ?? Foto: Sammlung Frauennach­lässe / Uni Wien ?? Ein Tagebuch von 1944 aus der Sammlung Frauennach­lässe.
Foto: Sammlung Frauennach­lässe / Uni Wien Ein Tagebuch von 1944 aus der Sammlung Frauennach­lässe.

Newspapers in German

Newspapers from Austria