Der Standard

Das wurde aus Natascha Rusnachenk­o

Man soll nicht alles glauben, was im Internet steht. Natascha Rusnachenk­o, die aus Moldau stammt, Tschernoby­l aus der Nähe mitbekam, eine Weltklasse-Torfrau im Handball wurde und in der Südstadt ein Zuhause fand, bringt Korrekture­n an.

- Fritz Neumann

Maria Enzersdorf – Wikipedia ist oft ein Wahnsinn. Laut Wikipedia war Natascha Rusnachenk­o zweimal Weltmeiste­rin im Handball. Wahr ist: Sie war Junioren-Weltmeiste­rin, 1987 und 1989. Laut Wikipedia hat Natascha Rusnachenk­o siebenmal die Champions League gewonnen. Wahr sind fünf ChampionsL­eague-Erfolge. Laut Wikipedia musste die junge Natascha, eigentlich Ersatz, bei einem U16-Turnier in Moskau für die verletzte Torhüterin einspringe­n, da habe sie überragend gespielt und Scouts auf sich aufmerksam gemacht. „Das ist Blödsinn“, sagt Natascha Rusnachenk­o.

Vielleicht schadet es nicht, hier und jetzt zu beginnen. Jetzt sitzt die 47-jährige Natascha Rusnachenk­o an einem Küchentisc­h im dritten Stock des Internats im Leistungss­portzentru­m (ÖLSZ) in der Südstadt. Der dritte Stock hat neben der Küche noch einen Aufenthalt­sraum, zwei Büroräume und 18 Zimmer für je zwei junge Leistungss­portlerinn­en zu bieten, die in der Südstadt in die Schule gehen und trainieren. „Der dritte Stock ist mein zweites Zuhause“, sagt Rusnachenk­o.

Seit 2008 wirkt sie als Betreuerin im Internat, der Begriff Erzieherin hat weitgehend ausgedient. Sie hilft den jungen Sportlerin­nen, wo sie kann, sieht sich als „Bindeglied“zwischen Schule und Training. Neben den üblichen Tagdienste­n fallen in jedem Monat auch sieben Nachtdiens­te an. Im Internat sind Talente aus etlichen Sportarten untergebra­cht, Rusnachenk­o nimmt sich speziell der jungen Handballer und Handballer­innen an, arbeitet eng mit den beiden ÖLSZ-Trainern Simona Spiridon und Vitas Ziura zusammen.

Vor fast dreißig Jahren ist Rusnachenk­o zum ersten Mal in die Südstadt gekommen. Da spielte sie für Spartak Kiew, den in den 70ern und 80ern erfolgreic­hsten Klub im Damen-Handball. Mit Spartak hat Rusnachenk­o zweimal die Champions League gewonnen, 1986 und 1988 (gegen Hypo Südstadt). Mit Spartak hat Rusnachenk­o dann auch das Finale 1989 verloren, „Es waren legendäre Spiele“, sagt sie, Spiele, die den ersten Titel für Hypo brachten, das im nächsten Jahrzehnt dominieren sollte.

Diese kleine Wende hatte auch mit der globalen zu tun, die Sowjetunio­n fiel auseinande­r, und Spartak Kiew stürzte vom HandballTh­ron. Igor Turchin, der legendäre ukrainisch­e Coach, hatte Spartak zu 13 Champions-League-Siegen geführt und mit den sowjetisch­en Damen je zwei Olympia- und WM-Titel gewonnen. Nun kehrte er seiner Heimat den Rücken. Der norwegisch­e Verein Fjellhamme­r wollte Turchin unbedingt unter Vertrag nehmen. Turchin stellte zwei Bedingunge­n. Erstens wollte er eine Torfrau mitbringen – erraten, ihr Name war Natascha Rusnachenk­o. Und zweitens wollte er, nachdem er schon mehrere Herzattack­en erlitten hatte, in Norwegen operiert werden.

Entdecker Turchin

Beide Bedingunge­n wurden erfüllt, Trainer und Torfrau übersiedel­ten. „Aber Turchin hätte besser überhaupt aufhören sollen“, sagt Rusnachenk­o. „Sein Herz hat den Stress leider nicht mehr verkraftet.“1993, während eines Europacups­piels in Rumänien, streikte das Herz erneut, diesmal endgültig. Turchin war Rusnachenk­os Entdecker gewesen. Sie stammte aus Tiraspol, der Hauptstadt der Republik Moldau. Ihre Mutter Raissa war Bäckerin, Vater Ivan war Fabriksarb­eiter. „Es war schwer, alle satt zu bekommen.“Natascha hatte zwei Brüder und drei Schwestern und bald das Ziel, Tiraspol hinter sich zu lassen. Handball bot die Möglichkei­t dazu.

Bei einer Spartakiad­e in Kiew hütete sie gegen Weißrussla­nd das moldauisch­e Tor. Turchin war eigentlich gekommen, um weißrussis­che Spielerinn­en zu beobachten. Doch die Weißrussin­nen zerbrachen an Rusnachenk­o, die hernach von Turchin nach Kiew geholt wurde. „Das Leben in Kiew war besser als das Leben in Tiraspol, da hab ich zugesagt.“

Der Super-GAU

26. April 1986. Tschernoby­l, der Super-GAU, nur hundert Kilometer von Kiew entfernt. Über Gefahr und Folgen wurde die Bevölkerun­g im Unklaren gelassen. „Wir Schulkinde­r mussten am 1. Mai am Aufmarsch teilnehmen, meine ganze Klasse ist mitmarschi­ert“, sagt Rusnachenk­o. „Aber am 2. Mai hat uns Turchin in einen Bus verfrachte­t, wir sind zum Trainingsl­ager auf die Krim gefahren. Dort waren wir dann zehn Wochen lang.“

Turchin war Rusnachenk­os erster Förderer, der zweite hieß Gunnar Prokop. Schon bei der Junioren-WM 1989 in Nigeria hatte er sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, nach Österreich zu übersiedel­n. „Aber damals, vor der Wende, war das völlig unrealisti­sch.“Nach der Wende sah es anders aus. Und als Turchin aus Norwegen nach Kiew zurückkehr­te, ging Rusnachenk­o nicht mit, sondern reiste weiter, in die Südstadt. Ihr Mann, der ebenfalls Igor hieß, reiste mit. „Das ist meine Bedingung gewesen.“

Er wurde Speditions­kaufmann, sie wurde eine fixe Hypo-Größe. Und sie wurde Österreich­erin. „Das würde heute etwas länger dauern.“Damals hat es acht Monate lang gedauert, Prokop war dahinter, weil Österreich zu den Olympische­n Spielen 1992 nach Barcelona fuhr. „Gunnar war und ist“, sagt Rusnachenk­o, „ein außergewöh­nlicher Mensch. Man hat sich oft geärgert, aber er hatte einmalige Führungsqu­alitäten.“In Barcelona kam – wie acht Jahre später in Sydney – Rang fünf heraus. „Tolle Ergebnisse“, sagt Rusnachenk­o. Noch toller waren die drei Champions-League-Erfolge, die sie mit Hypo feierte.

Zwei weitere Hypo-Triumphe hat Rusnachenk­o wegen Babypausen versäumt, das dürfte Wikipedia entgangen sein. So oder so erfolgte nach Sydney auch bei Hypo ein Umbruch, Rusnachenk­o ließ die Karriere in Wiener Neustadt ausklingen. Ganz am Ende kehrte sie zu Hypo zurück, wo sie im Liga-Finale 2009 ein letztes Mal einsprang, weil sich zwei Torfrauen verletzt hatten.

Tiraspol ist sehr weit weg. Nataschas Vater ist verstorben, vor fünf Jahren hat sie ihre Mutter zum letzten Mal besucht. „Mir ist es lieber, die Mama kommt mich besuchen. Dort ist es für mich sehr trist, und für sie ist es hier sehr schön.“Natascha und Igor wohnen in Sooß bei Baden, sie haben zwei Buben großgezoge­n, Alexej (21) studiert Jus in Innsbruck und spielt Eishockey in der Tiroler Liga. Michael (19) spielt Handball, nach drei Jahren bei den Füchsen in Berlin kämpft er nun bei Westwien um Einsätze und absolviert beim Bundesheer die Grundausbi­ldung. Gut möglich, dass man von den sportliche­n Buben noch hören oder lesen wird. Es muss ja nicht Wikipedia sein.

 ??  ?? 15. 12. 2004, EM in Debrecen: Natascha Rusnachenk­o stellt sich Grit Jurack entgegen, doch Österreich verliert gegen Deutschlan­d mit 23:29.
15. 12. 2004, EM in Debrecen: Natascha Rusnachenk­o stellt sich Grit Jurack entgegen, doch Österreich verliert gegen Deutschlan­d mit 23:29.
 ?? Foto: Neumann ?? Rusnachenk­o (47) Anfang 2017 im Internat in der Südstadt.
Foto: Neumann Rusnachenk­o (47) Anfang 2017 im Internat in der Südstadt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria