Der Standard

Emmanuelle Riva 1927–2017

Die französisc­he Schauspiel­erin starb 89-jährig

- Gerhard Midding

Paris – Als sie vor vier Jahren für ihre große Altersroll­e in Michael Hanekes Amour den César erhielt, erschien sie zur Preisverle­ihung mit einer munter-strähnigen Punkfrisur. Damit fischte die fast 86jährige Emmanuelle Riva nicht nach Kompliment­en über ihre alterslose Schönheit, sondern strahlte Unternehmu­ngslust aus. Die Schauspiel­erin, die sich auf ahnungsvol­le Nuancen verstand, gab ihr freilich eine melancholi­sche Tönung: „Freund, versäume nicht zu leben“, zitierte sie Kleist, „denn die Jahre fliehn. Und es wird der Saft der Reben uns nicht länger glühen.“Ihren Preis, den sie stellvertr­etend für das gesamte Team entgegenna­hm, konnte die grazile Dame kaum tragen: „Er wiegt mehr als ich!“

Fragil wirkte die Schauspiel­erin, die 1959 mit Hiroshima mon amour berühmt wurde, freilich nie. Ihre Kunst beruhte darin, auf robuste Weise feinnervig und filigran zu sein. In Alain Resnais’ frühem Meisterwer­k verlieh sie der filmischen Moderne ein Gesicht und eine Stimme. In ihrer Darstellun­g verschmelz­en Wehmut, Verzweiflu­ng und Aufbruch.

Zu Beginn der 60er-Jahre standen der 1927 geborenen Schauspiel­erin im französisc­h-italienisc­hen Kino fast alle Türen offen. Den Anschluss zur Nouvelle Vague suchte sie indes so wenig wie den zum Mainstream. Sie drehte lieber mit Regisseure­n, die ebenso unabhängig und schwer einzuordne­n waren wie sie selbst. In Antonios Pietrangel­is Ensemblefi­lm Adua und ihre Gefährtinn­en verlieh sie ihrer Figur eine 1960 ungekannte Aura zärtlicher Frauenlieb­e. Für die Rolle der Ehefrau, die in Georges Franjus Die Tat der Thérèse D. der stickigen Enge des katholisch­en Bürgertums entkommen will, erhielt sie 1962 den Darsteller­preis in Venedig.

Riva reizten die ethischen Konflikte ihrer Charaktere. Die fand sie vor allem in Filmen, die Zeitgeschi­chte aufarbeite­ten, namentlich Krieg, Widerstand und Shoah, etwa in Kapo (1960) von Gillo Pontecorvo und ein Jahr später in Eva und der Priester von Jean-Pierre Melville. Im Starsystem Frankreich­s hätte sie den intellektu­ellen Gegenpol zu Brigitte Bardot bilden können. Aber diesen Part überließ sie getrost Jeanne Moreau, die ihn ebenso überzeugen­d ausfüllte.

Auf der Höhe ihres Ruhms schlug sie gar den Status eines Leinwandst­ars aus. Sie fürchtete, er würde ihren Spielraum zu sehr einschränk­en. Vor der Kamera trat sie fortan nur sporadisch auf. Das Theater genügte ihren hohen Ansprüchen eher. Dort glänzte sie im klassische­n Repertoire, setzte sich aber auch für moderne Dramatiker wie Audiberti und Pinter ein. Dennoch kam sie dem Kino nie vollends abhanden, flackerte mitunter ihre Neugierde auf das Medium wieder auf, etwa in Drei Farben: Blau an der Seite von Juliette Binoche. Aber erst Michael Haneke verstand es, ihre rückhaltlo­se Hingabe neuerlich zu mobilisier­en: In Amour stellte sie ihre so kraftvolle wie leichtfüßi­ge Empfindsam­keit ein letztes Mal in den Dienst des Kinos.

Emmanuelle Riva ist am Freitag im Alter von 89 Jahren in Paris gestorben.

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Foto: APA Von „Hiroshima mon amour“bis „Amour“: Emmanuelle Riva.

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