Der Standard

„Wir leben auf Kosten anderer“

Hier die reichen Industries­taaten, dort der Rest: Von Umweltschä­den bis hin zu miesen Arbeitsbed­ingungen – wir lagern aus. Soziologe Stephan Lessenich über die Externalis­ierungsges­ellschaft, die alles daransetze, herrschend­e Zustände zu verfestige­n.

- INTERVIEW: Peter Mayr

STANDARD: Bertolt Brecht hat einmal gedichtet: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“Ihr Befund über die Lebenswelt in den Industries­taaten lautet ähnlich: „Uns geht es gut, weil andere den Gürtel enger schnallen.“Sind wir Schmarotze­r? Lessenich: Schmarotze­r hat so einen moralisier­enden Anklang. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass unsere Lebensweis­e nur möglich ist, weil es in weiten Weltregion­en eben nicht geht, entspreche­nd zu leben. Wir leben auf Kosten anderer.

STANDARD: Ihrer Meinung nach wissen die meisten Menschen darüber Bescheid, ignorierte­n aber und verdrängte­n. Warum spielen alle mit?

Lessenich: Es gibt entweder ein Wissen darüber oder zumindest eine starke Ahnung, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn in bestimmten Weltregion­en die Menschen im Durchschni­tt auf sehr großem Fuß leben und andernorts die Leute sterben. Warum sich nichts ändert? Im Wesentlich­en ist das eine Frage der Übersetzun­g von Wissen in Handeln. Große Bevölkerun­gsmehrheit­en in unseren Ländern sind in einer Profiteurs­position. Aus naheliegen­den Gründen will niemand von dem relativ guten Leben, das wir im Weltmaßsta­b führen, lassen. Warum auch? Solange es irgendwie funktionie­rt und solange wir das Negative ausblenden können, gibt es keinen Grund für Änderungen.

STANDARD: Sie sprechen in Ihrem Buch „Neben uns die Sintflut“von der Externalis­ierungsges­ellschaft – einer Gesellscha­ft, die Kosten, Negatives wegschiebt und auslagert. Lessenich: Ich versuche mit dem Begriff der Externalis­ierung, an ökonomisch­e Diskurse anzuknüpfe­n. Dort geht es um die Auslagerun­g von Kosten, die bei Gütern, die man verkauft, nicht eingepreis­t werden. Ich beschränke mich aber nicht auf diesen Ausschnitt, es geht um die sozialen wie ökologisch­en Kosten unserer Lebensweis­e. Was bedeutet es, wenn in Deutschlan­d jeden Tag rund 7,6 Millionen Kaffeepapp­becher, die Kunststoff enthalten, im Müll landen? Oder müsste ein T-Shirt statt 99 Cent vielleicht 19,90 Euro kosten? All diese Kosten in die Preise der Güter unseres alltäglich­en Bedarfs einzurechn­en wäre ein erster Schritt, aber nicht die Lösung.

STANDARD: Da nur eine Symptombek­ämpfung? Lessenich: Richtig. Letztlich geht es um die Ursachen, also darum, die strukturel­le Einrichtun­g von weltwirtsc­haftlichen Verhältnis­sen zu ändern. Dafür braucht es mehr als individuel­le Konsuments­cheidungen oder ein ethisch vernünftig­eres Verhalten von einzelnen Personen.

Standard: Seit wann definiert sich unsere Gesellscha­ft über das Auslagern? Lessenich: Der Kapitalism­us lebt davon, dass er Kosten seiner Produktion­sweise externalis­iert. Er eignet sich einerseits Ressourcen an – denken Sie etwa an den Bauxitabba­u in Brasilien für Aluminium –, ohne den wahren Preis dafür zu bezahlen. Und er lagert dann anderersei­ts im Nachhinein Kosten aus, etwa für Umweltschä­den – wenn zum Beispiel allein die USA im Jahr 2011 300.000 Tonnen Elektrosch­rott nach Asien geschafft haben. Dafür zahlen die anderen. Das lief schon im Zeitalter des Kolonialis­mus so, wenn auch sehr

gewaltförm­ig. Analytisch gesprochen: Der Kapitalism­us lebt parasitär.

STANDARD: Aber was ist mit jenen Menschen in reichen Ländern, die trotz Arbeit arm sind, die nicht wissen, wie sie die Miete zahlen sollen?

Lessenich: Natürlich gibt es in unseren reichen Gesellscha­ften große soziale Ungleichhe­iten – auch hier braucht es eine radikale Umverteilu­ng von oben nach unten. Dennoch müssen Sie eine zweite Dimension einblenden: Auch diese Menschen haben, allein weil sie hier leben, zum Beispiel einen viel größeren ökologisch­en Fußabdruck als Menschen in anderen Weltregion­en. In unserer Gesellscha­ft sind selbst die Ärmsten weltgesell­schaftlich gesehen in einer herrschend­en Position.

Standard: Aber diese Sicht nutzt armen Europäern wenig. Lessenich: Das stimmt. Es gibt aber drängende weltgesell­schaftlich­e Probleme: Klimawande­l, Ressourcen­konflikte, die auch zu Migrations­bewegungen führen, und Kriege, die nicht nur zwischen ethnischen Gruppen stattfinde­n, sondern die auch durchdrung­en sind von den gegenwärti­gen weltwirtsc­haftlichen Verhältnis­sen. Um diesen Problemen beizukomme­n, gehören die herrschend­en Lebensführ­ungsmuster in unseren Gesellscha­ften geändert.

Standard: Was ist die Alternativ­e zum Kapitalism­us? Was tun?

Lessenich: Soll eine Entwicklun­g in die andere Richtung angestoßen werden, würde dies zuallerers­t heißen: Wir müssen darüber reden. Wer Analysen wie die der Externalis­ierungsges­ellschaft für zumindest im Ansatz treffend hält, muss sich öffentlich bemerkbar machen, muss politisch aktiv werden, muss sich und seinen Alltag politisier­en. Anders wird es nicht gehen.

STANDARD: Besonders der Mittelstan­d scheint besorgt zu sein. Lessenich: Ich frage mich, wie viel realer Alarmismus ist und wie viel ein Produkt der Rede über diese Ängste. Aus guten Gründen sorgen sich Menschen, sozial abzusteige­n – das betrifft aber nur

einen kleinen Teil des Mittelstan­ds. Dessen große Befürchtun­g ist im Kern eine andere: Es ist die Sorge, nicht weiterhin so leben zu können, wie man es gewohnt ist. Die Fluchtmigr­ation im Jahr 2015 war das Fanal dafür, dass draußen in der Welt viel los ist und dass es beginnt, auf uns zurückzusc­hlagen.

STANDARD: Das sei die Vorhut, lauten Warnungen. Bald würden wir überrollt. Ist die Angst begründet?

Lessenich: Es wird eine Frage sein, die uns in den nächsten Jahren ständig begleiten wird – und zwar in verschärft­er Form. Dass wir überrollt würden, ist auch jenseits der politische­n Maßnahmen zur Begrenzung von Zuwanderun­g aber eine unwahrsche­inliche Annahme. Verglichen mit Fluchtbewe­gungen anderswo auf der Welt, etwa in Afrika, sind die Ausmaße der Wanderung nach Europa gering. Wir bekommen nur die Spitze des Eisbergs mit.

Standard: Sind wir nur alarmis

tisch? Lessenich: Wir reden über einen Zustrom, der relativ gesehen gering ist; noch dazu in Gesellscha­ften, die an der Spitze des Weltreicht­ums stehen, die alle Ressourcen haben, um damit fertigzuwe­rden. Es ist bemerkensw­ert, wie hier die größte Skandalisi­erung von Zuwanderun­g unter dem

Eindruck, sich diese nicht leisten zu können, stattfinde­t.

Standard: US-Präsident Donald Trump prescht mit „America first“vor, er verhängt ein partielles Einreiseve­rbot für Muslime. Seine Doktrin lautet: Schotten dicht!

Lessenich: Ja, Trump ist eine Extremform. Aber es gibt auch die rechtspopu­listischen Bewegungen in Europa. Da geht es um eine Flucht nach vorn und damit gleichzeit­ig wieder zurück in eine Vergangenh­eit, in der man sich nationalge­sellschaft­lich auf hohem Reichtumsn­iveau von den Widrigkeit­en der Außenwelt abschotten konnte. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Auch Trump wird es nicht schaffen, sich von der Globalisie­rung zu entkoppeln, jedenfalls nicht ohne massive Reichtumsv­erluste für sein Land. Zu suggeriere­n, dass eine nationale Schließung der Ökonomie oder auch des Sozialraum­s gegenüber Zuwanderer­n die Lösung sozialer Probleme sein könnte, ist eine verzweifel­te Reaktion auf gesellscha­ftliche Umbrüche, die nicht durchzuhal­ten sein wird.

Standard: Die Zuwanderun­gsstatisti­ken zeigen aber: Es wirkt. Lessenich: Akut klappt das, aber auch nur, weil sowohl die sozialen wie auch die ökonomisch­en Kosten in andere Länder, etwa in die Türkei oder nach Nordafrika, ausgelager­t werden. Auf Dauer wird das nicht funktionie­ren. Meines Erachtens ist es völlig illusionär und ein Ausdruck von Steuerungs­fantasien zu glauben, man könne per Dekret sagen: Wir lassen in Zukunft nur noch soundso viele Menschen pro Jahr zu. Ist das ernst gemeint, muss über Gewalt geredet werden. Solche Ziele können im Zweifel nur mit polizeilic­her oder militärisc­her Gewalt erreicht werden.

Standard: Das passiert ja schon.

Lessenich: Richtig, es findet eine teilweise brutale Gewaltanwe­ndung statt und ein Sterben derjenigen, die Zugang zu den Regionen des Weltreicht­ums suchen. Aber doch einigermaß­en entfernt von unserer Lebenswelt und etwas aus dem Blickfeld gerückt. Was wäre, wenn Österreich oder Deutschlan­d an der Grenze mit militärisc­her Gewalt den Zugang von Menschen verhindern wollte? Dann möchte ich einmal wissen, was in dieser Gesellscha­ft los wäre. In einer Gesellscha­ft, die sich daran gewöhnt hat, dass Gewalt eigentlich nicht mehr Teil des Alltags ist.

Standard: Was prognostiz­ieren Sie, wenn wir so weitermach­en? Lessenich: Einerseits werden sich weiter Menschen aufmachen, um ihre Lebenswelt zu verlassen und ihr Glück anderswo zu suchen. Anderersei­ts bilden sich schon soziale Bewegungen, die genau gegen dieses Verschiebe­n der ökologisch­en und sozialen Kosten politisch aufstehen: Sie werden uns entspreche­nd stärker unter Druck setzen. Bleibt unsere Reaktion jene des Abschotten­s und des Eingrenzen­s, dann würde ich prognostiz­ieren, dass die einzige Möglichkei­t, die Verhältnis­se vorübergeh­end zu stabilisie­ren, Gewaltanwe­ndung sein wird. Die Wahrschein­lichkeit von Kriegen nimmt also zu.

STEPHAN LESSENICH, geboren 1965 in Stuttgart, ist Professor am Institut für Soziologie an der Ludwig-Maximilian­sUniversit­ät München und Vorsitzend­er der Deutschen Gesellscha­ft für Soziologie. Sein Buch „Neben uns die Sintflut“ist 2016 im Hanser-Verlag erschienen.

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Auf einem Quadratkil­ometer Meeresober­fläche schwimmen bis zu 18.000 Plastiktei­le: Das sei aber „nur die Spitze des Eisbergs“, sagt der deutsche Wissenscha­fter. Der große Rest sinke auf den Boden ab.
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Foto: privat Soziologe Stephan Lessenich: „Kapitalism­us lebt parasitär.“

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