„Das Vorgehen der EU in Libyen ist blind“
Allein mit der Einheitsregierung zu reden sei ein Fehler, sagt der einst in Libyen tätige NGO-Mitarbeiter Emanuele Nannini. Das würde Flüchtlingsrouten nur verschieben.
Standard: Ihre NGO Emergency hat sich im August 2016 aus Libyen zurückgezogen. Warum? Nannini: Wegen genereller Sicherheitsbedenken. Wir haben weiter ein gutes Verhältnis zu den libyschen Behörden, vor allem auf ministerieller Ebene. Doch sie konnten die Sicherheitskräfte vor Ort nicht mehr ausreichend kontrollieren. Wir waren uns nicht mehr sicher, ob unser Spital noch ausreichend geschützt ist, daher haben wir den Einsatz beendet.
Standard: Hatte es zuvor schon Zwischenfälle gegeben? Nannini: Wir als NGO, als internationale Hilfskräfte wurden nie angegriffen. Aber wir mussten Gewaltakte auf Libyer mitansehen, die sich im Spital und auf dem Spitalsgelände befanden.
Standard: Gibt es Überlegungen, wieder nach Libyen zurückzukehren? Nannini: Wir beobachten die dortige Situation, aber in der aktuellen Lage wäre es zu schwierig, wieder in Libyen tätig zu sein.
Standard: Was sind die größten Probleme in Libyen? Nannini: In der Zeit, in der ich dort war, war das größte Problem die Anarchie im Land. Wir haben in verschiedensten Regionen Libyens die Lage geprüft, um einen Standort für mögliche Projekte zu finden, und überall gab es zahlreiche Akteure. Vor allem jene auf lokaler Ebene spielen in Sicherheitsfragen eine wichtige Rolle, und genau hier ist auch die Unberechenbarkeit am größten. Wer heute ein zuverlässiger Partner ist, kann morgen eine Gefahr sein. Außerdem herrscht keine Disziplin hinsichtlich Befehlen von oben. Dass die von den unteren Ebenen auch tatsächlich ausgeführt werden, kommt sehr selten vor. Daran hat sich, soweit ich aus Libyen höre, nichts geändert.
Standard: Was haben Sie während Ihrer Zeit in Libyen von den Flüchtlingsbewegungen mitbekommen? Nannini: Libyen war lange Zeit ein Land, in dem man ankommt, und nicht eines, von wo man ablegt. Mit dem Krieg hat sich das geändert, das hat man schon gemerkt. Wir sind auch auf Sizilien tätig und kümmern uns um die angekommenen Flüchtlinge. Meine Kollegen dort hören immer wieder, wie die Menschen in Libyen eingesperrt und gefoltert wurden.
Standard: Von wo legen die meisten Flüchtlinge ab? Nannini: Meist vom westlichen Küstenbereich nahe Tripolis, vor allem von den Städten Zuwara und Sabratha. Hier war die Lage in den vergangenen Jahren sehr instabil, das haben die Schlepper ausgenutzt und ihr Geschäft aufgebaut.
Standard: Was halten Sie angesichts Ihrer Erfahrungen von den Plänen der EU, mit der Einheitsregierung zu kooperieren, um die Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa zu stoppen? Nannini: Man sollte es auf alle Fälle probieren. Es ist aber wichtig, mit allen wichtigen Akteuren in Libyen zu reden und nicht nur mit einem. Das ist natürlich eine riesige Herausforderung, aber anders wird es nicht zu einer nachhaltigen Lösung kommen. Allein mit der international anerkannten Regierung zu reden, die gerade einmal 30 bis 40 Prozent des libyschen Küstengebiets kontrolliert, ist ein blindes Vorgehen. Fängt man an, in diesem Bereich strenger zu patrouillieren, kommen die Flüchtlinge am nächsten Tag einfach von der anderen Seite.