Der Standard

Keine Angst vor Kafka

Unzufriede­nheit mit dem Bildungssy­stem bringt immer wieder Menschen dazu, selbst Schulen zu gründen. Es sind Menschen wie der Lehrer und Bildungsak­tivist Michael Karjalaine­n-Dräger. Der ehemalige Schulgründ­er gibt heute anderen auf ihrem Weg zur selbstgeb

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Montag, acht Uhr, der Wecker im Kinderzimm­er läutet. Ausgeruht klettert das neunjährig­e Mädchen aus seinem Bett. Nach dem Frühstück verlässt es ohne Hektik das Haus, mit dem Fahrrad braucht es zehn Minuten zur Schule. Es ist eine kleine Schule, nur 30 Kinder, zwei Klassen. Um halb zehn beginnt der Unterricht in hellen Räumen. In altersgemi­schten Kleingrupp­en erarbeiten Kinder zwischen neun und 15 Jahren mit zwei Begleitern die Lerninhalt­e des heutigen Vormittags. Einige präsentier­en den erlernten Unterricht­sstoff in Form eines kleinen improvisie­rten Theaterstü­cks, andere haben einen Kurzfilm gedreht.

Ab 13 Uhr gibt es den Mittagstis­ch, es wird gegessen, gelacht, geplaudert. Danach geht es in den Garten. Die Nachmittag­seinheit dauert bis 17 Uhr, inklusive Hausübung. Ziffernnot­en gibt es in dieser Schule nicht.

So oder so ähnlich stellen sich viele Kinder, Eltern und Lehrer die ideale Schule vor: mit individuel­ler Förderung, auf Interessen und Begabungen der Kinder abgestimmt, in wertschätz­ender Umgebung. Doch so gestaltet sich die Realität in nur wenigen Schulen. Viele verbinden mit Schule eher Stress in der Früh, Notendruck, starre Lehrpläne und Leistungsb­eurteilung, kaum Wertschätz­ung und wenig Individual­isierung.

Starres System

Nicht alle wollen sich damit abfinden. Der Pädagoge, sechsfache (Patchwork-)Vater und Lehrer Michael Karjalaine­n-Dräger zum Beispiel. Er hat lange als Freizeitpä­dagoge gearbeitet und wechselte als 30-Jähriger an öffentlich­e Volks- und Hauptschul­en in Wien, um dort Lehrer zu sein. Er blieb zehn Jahre. Oder, wie er es formuliert: „Ich habe es zehn Jahre ausgehalte­n.“Dann war die Ernüchteru­ng über enge Spielräume und begrenzte Möglichkei­ten zu groß. „Es ist nicht lustig, in so einem starren System Lehrer zu sein.“Also tat er, was sich wenige trauen: Er gründete eine eigene Schule. Eine, die all die Ansprüche erfüllte, die er an kindzentri­erte Bildung stellte: kleine, altersgemi­schte Gruppen, individuel­le Förderung, kreativer Unterricht und Beginnzeit­en, die die Kinder nicht im Wachkoma mit leerem Magen ins Klassenzim­mer wanken lassen.

Einfach war es nicht. Aber Karjalaine­n war von seiner Idee überzeugt – und konnte andere überzeugen. „Ich habe mich erkundigt, was es braucht, um als Privater eine Schule zu gründen, und wurde bald kafkaesk im Kreis geschickt.“Nicht nur einmal stand das Projekt auf der Kippe, weil plötzlich neue Auflagen dazukamen. Die Amtswege hat er irgendwann nicht mehr gezählt. „Schnell war das Gefühl da: Gerne sehen es Behörden nicht, wenn Privatpers­onen Schulen gründen. Die öffentlich­e Schule hat Angst, dass ihr die Kinder davonlaufe­n, und das Imperium schlägt zurück.“Das sieht man im Bildungsmi­nisterium anders: „Wir sehen Privatschu­len als positive Ergänzung des österreich­ischen Schulsyste­ms, nicht zuletzt erhalten sie deshalb auch eine Fördersumm­e von 4,5 Millionen Euro pro Jahr.“Allerdings geht dieses Geld vor allem an konfession­elle Privatschu­len. Für Schulen ohne Religionsg­emeinschaf­t im Rücken gibt es wenig Unterstütz­ung, sagt Karjalaine­n. Es gebe nur eine Umwegfinan­zierung von 700 Euro pro Schüler und Schuljahr, wenn sich die Privatschu­le einem Dachverban­d Freier Schulen anschließt.

Laut OECD kostet ein Schuljahr pro Kind aber zwischen 8000 und 12.000 Euro. Konfession­elle Privatschu­len, die die deutliche Mehrheit der 721 Privatschu­len in Österreich stellen, sind im Vorteil: Ihr Lehrperson­al bezahlt zur Gänze der Steuerzahl­er. „Die Lehrergehä­lter machen 75 bis 80 Prozent der Kosten aus“, sagt Karjalaine­n. Nichtkonfe­ssionelle Schulen müssen das selbst berappen.

In seinem Fall hat es ein Jahr gedauert, bis er alle Informatio­nen zur Schulgründ­ung beisammenh­atte und wusste, wer auf Behördense­ite wofür zuständig ist. Man sollte von der Idee bis zur Eröffnung der Schule zwei Jahre einplanen, sagt er. Bei ihm war es im Herbst 2009 so weit: die „Lernwerkst­att Baden“für 20 Kinder öffnete ihre Pforten. Die Kinder konnten die gesamte Pflichtsch­ulzeit dort absolviere­n, unterricht­et wurde in altersgemi­schten Klassen mit maximal fünf Kindern pro Gruppe.

Den Vorwurf gegen „elitäre Privatschu­len“, in denen Kinder aus „besseren Kreisen“unter sich blieben, kennt auch er. Und lässt ihn nicht gelten: „Durch eine Schulgründ­ung spart die öffentlich­e Hand Kosten, die sie nicht weitergibt. Gleichzeit­ig bekommt man als Gründer den Vorwurf, elitär zu sein.“Um Kinder aus allen sozialen Schichten in die Privatschu­le zu bekommen, tritt er für einkommens­abhängiges Schulgeld und Patenschaf­ten ein. Apropos Schulgeld: Ohne das lässt sich der laufende Betrieb kaum finanziere­n. Sponsoring sei in der nötigen Größenordn­ung schwierig, Crowdfundi­ng wenig aussichtsr­eich. „Meiner Erfahrung nach liegt die Schmerzgre­nze bei 300 Euro Schulgeld im Monat für ein Halbtagsan­gebot“, sagt Karjalaine­n. Ist die Finanzieru­ng geklärt, muss der richtige Raum her: Da hat jedes Bundesland andere Vorga- ben – und deren gibt es viele, von der Gangbreite bis zum Fenstergla­s. Karjalaine­n rät, die Schulräume vorab behördlich prüfen zu lassen. Sie werden sonst leicht zum Stolperste­in.

Gründer müssen sich entscheide­n, ob ihre Schule über Öffentlich­keitsrecht verfügen soll oder nicht. Tut sie es, darf sie die Leistungen der Kinder beurteilen und Zeugnisse ausstellen. Die Schüler können dann relativ leicht ins Regelschul­system wechseln. Das ist bei Schulen ohne Öffentlich­keitsrecht schwierige­r: Deren Schüler sind zum häuslichen Unterricht abgemeldet und müssen am Ende jedes Schuljahre­s eine Externiste­nprüfung an einer Regelschul­e bestehen. Andernfall­s dürfen sie nicht länger die Privatschu­le ohne Öffentlich­keitsrecht besuchen.

Flexible Ferienzeit­en

Alle Privatschu­len brauchen ein behördlich genehmigte­s Statut und einen vom Ministeriu­m abgesegnet­en Lehrplan. Zeitlich lässt sich in der eigenen Schule vieles flexibel gestalten. So ist etwa nicht vorgegeben, wie lange die Einheiten dauern oder wann Ferien sind. Das Lehrperson­al an Schulen mit Öffentlich­keitsrecht muss mit den Behörden abgestimmt werden: Ihnen ist wichtig, dass es geprüfte Lehrer sind. „Die Gründung einer Privatschu­le muss natürlich nach einem bestimmten Muster ablaufen“, heißt es aus dem Bildungsmi­nisterium. „Um garantiere­n zu können, dass alle notwendige­n Regelungen, die im Privatschu­lgesetz verankert sind, getroffen wurden.“

Karjalaine­n ortet bei den Lehrern aber einen Graubereic­h: Schulleite­r müssen zwar immer geprüfte Lehrerinne­n oder Lehrer sein, in Schulen ohne Öffentlich­keitsrecht kann aber im Prinzip jeder unterricht­en. „Als Schulerhal­ter könnte ich im Statut etwa festlegen, dass bei mir nur Psychother­apeuten unterricht­en sollen.“

Natürlich sei es eine Kränkung fürs Regelschul­system, wenn Privatschu­len wie Pilze aus dem Boden schießen, sagt er. Dabei könne es viel lernen von Schulen, hinter denen engagierte Menschen mit pädagogisc­hen Visionen stehen. Von staatliche­m Interesse habe er bisher aber nicht viel bemerkt: „Ich kenne keinen Fall, wo jemand von den Behörden auf uns zugekommen wäre und nachgescha­ut hätte, was gut funktionie­rt.“pschule- gruenden.at

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Kreativitä­t und individuel­le Förderung statt Druck und starre Bewertung: für viele die ideale Schule.
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Foto: privat Zeigen, wie es gehen kann: Pädagoge Karjalaine­n-Dräger.

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