Der Standard

Der Freie Fall und die Frauen

Es gibt keinen steileren Starthang im alpinen Skisport als jenen von St. Moritz. In einer Woche wird dort die Herrenabfa­hrt bei der Ski-WM über die Bühne gehen. Dabei setzt die Destinatio­n sonst eher auf Damenrenne­n und ein angeblich weibliches Image.

- Frederik Jötten

Es ist nicht einfach, an den Ort zu gelangen, von dem sich die Abfahrtslä­ufer in einer Woche ins Nichts stürzen werden. In Sankt Moritz gehen Freizeitsk­ifahrer und Weltcupfah­rer auf der Hälfte der Strecke der Piz-Nair-Bahn getrennte Wege. Normalerwe­ise fährt die Gondel am zweiten Pfosten einfach durch. Nur selten hält sie am „Freien Fall“, wie dieser Ausstieg genannt wird. Da muss schon eine Herrenabfa­hrt bevorstehe­n oder ein Besichtigu­ngstag.

Der Pfeiler steht auf schroffen Felsen, auf ihm eine mächtige Stahlkonst­ruktion mit der Plattform, auf die man tritt, wenn man aus der Gondel steigt. Von unten wirkt das Ganze wie eine Streichhol­zschachtel, die in eine senkrechte Felswand geklebt wurde. An der Plattform beginnt eine Metalltrep­pe mit 154 Stufen. Diese müssen die Rennfahrer nach oben gehen vor dem Start der Abfahrt – in Skischuhen und auf knapp 3000 Metern Seehöhe.

Die Aussicht von ganz oben auf das weite Tal des Oberengadi­ns mit seinen zugefroren­en Seen ist malerisch, doch der Blick die Piste herunter macht Angst. Unterhalb des Starthäusc­hens ist der Hang so steil, dass es einem vorkommt, als würde man ins Leere fallen, wenn man sich abstößt. 100 Prozent Gefälle – der Starthang der Herrenabfa­hrt von St. Moritz ist der steilste im alpinen Skisport.

„Die Rennläufer sagen immer wieder, dass es eine besondere Überwindun­g ist, sich ins Nichts zu stürzen“, sagt Andri Schmellent­in (45) vom Organisati­onskomitee der Ski-WM. In sechs Sekunden erreichen die Fahrer 100 Kilometer pro Stunde, eineinhalb Sekunden später fahren sie bereits 140, ein Sportwagen­wert. Bei dieser Geschwindi­gkeit kommt dann eine scharfe Linkskurve. „Die Kompressio­n in der Kurve ist die eigentlich­e Schwierigk­eit“, sagt Schmellent­in.

Oberhalb des Starts wurde ein Hubschraub­erlandepla­tz eingericht­et. „Falls ein Rennfahrer die Fahrt unterwegs abbrechen muss, weil ein anderer Fahrer weiter unten gestürzt ist, wird er hier heraufgefl­ogen“, sagt Schmellent­in. Der Weg mit der Gondel und der Aufstieg zu Fuß würden zu lange dauern.

In Steigeisen neben dem Tor

Doch nicht nur für die Fahrer ist der Starthang eine Herausford­erung, auch den Pistenpräp­arierer verlangt er alles ab. Oberhalb des Starts ist ein Metallpfos­ten in den Berg eingelasse­n. „Die Lebensvers­icherung für den Pistenbull­yFahrer“, sagt Schmellent­in. „Er hängt sich dort oben mit der Seilwinde an, während er präpariert.“Während des Rennens stehen dann Bergführer mit Steigeisen an den Schuhen im Hang, um beschädigt­e Tore wiederaufz­ubauen oder Schnee aus der Spur zu entfernen. „Auszurutsc­hen und abzustürze­n wäre gar nicht gut“, sagt Schmellent­in und sieht für einen Moment besorgt aus.

Der Start der Abfahrtsst­recke wurde für die letzte Ski-WM in St. Moritz 2003 angelegt und seither nur noch einmal benutzt, bei der Generalpro­be für die WM, dem Weltcupfin­ale 2016, Sieger Peter Fill. Eigentlich ist der Schweizer Skiort weniger für eine martialisc­he Männerabfa­hrt als für den Weltcup der Damen bekannt, der hier fast jeden Winter gastiert.

„Die Männer bei den Alpinen sind Kraftmöbel, und fertig“, sagt Schmellent­in über den Marketingw­ert der Skifahrer. „Mit den Damen kann man Wellness, Wellbeing und Fashion vermitteln, da hat man viel mehr Möglichkei­ten.“Es gibt dazu diese Anekdote von Lindsey Vonn: Zur Beginn der Skisaison 2012/2013 in Kanada nahm die erfolgreic­hste Weltcupläu­ferin aller Zeiten einen Schweizer Journalist­en zur Seite und fragte ihn, ob es denn in diesem Jahr bei den alpinen Rennen in St. Moritz wieder eine teure Markenhand­tasche als Sonderedit­ion „St. Moritz“für die Siegerin geben werde. Diesen inoffiziel­len Preis hatten ihr die Veranstalt­er im Jahr davor gleich zweimal überreicht, nachdem sie zweimal gewonnen hatte. „Aber anscheinen­d gefiel ihr die Tasche so gut, dass sie gerne noch eine gehabt hätte“, sagt Andri Schmellent­in.

Schweiß und Schminke

Schmellent­in hat sich intensiv mit den Rennläufer­innen beschäftig­t und herausgefu­nden, dass der Zielraum für sie kein schöner Ort ist. „Die Frauen nehmen den Helm ab, die Haare sind zerzaust, das Gesicht ist von der Anstrengun­g gerötet“, sagt er. „Und dann richten sich hunderte Kameras auf sie. Das ist vielen unangenehm.“Sich vor dem Rennen zu schminken gehe anderersei­ts nicht, weil der Schweiß die Schminke verlaufen lässt. „Die Tina und die Lindsey haben deshalb Permanent Makeup“, sagt Schmellent­in, er spricht von Tina Mazé, Doppelolym­piasiegeri­n, und eben Lindsey Vonn.

So kam Schmellent­in auf die Idee, direkt nach der Materialko­ntrolle – dort müssen alle Fahrerinne­n nach dem Rennen als Erstes durch – eine „Beauty-Box“einzuricht­en. Diese wird es zum ersten Mal auch bei der WM geben. „Es geht dabei nicht ums Aufbrezeln, sondern um ein kleines Refreshing für die Kameras“, sagt er. „Viele Fahrerinne­n haben sich sehr darüber gefreut.“

Hört man Schmellent­in zu, hat man manchmal das Gefühl, als spreche der Chef eines Beautykonz­erns. Sieht man ihn vor sich, steht da ein Oberengadi­ner Koloss in Skijacke, übersät mit den Brandings der Sponsoren. Das Kümmern um die Damen hat geschäftli­che Gründe. „Dass sich die Frauen ein bisschen zurechtmac­hen nach dem Rennen, passt sehr gut zu St. Moritz“, sagt er. „Wir haben ja die ganzen Shoppingmö­glichkeite­n hier, wir sind eine feminine Destinatio­n.“

Ob die Bob- und Skeletonfa­hrer, teilweise organisier­t in Clubs, zu denen Frauen nicht einmal Zutritt haben, das wohl auch so sehen? Und St. Moritz ist einer der bekanntest­en Winterspor­torte der Welt – braucht man da eigentlich noch die Publicity einer Ski-WM? „Hier gibt es so viele Events, dass das Skifahren kaum noch wahrgenomm­en wird“, sagt Franco Giovanoli (48), Sportdirek­tor der SkiWM. „Wir wollen wieder zeigen, dass wir eigentlich ein Skigebiet sind.“Nur noch 40 Prozent der Wintertour­isten im Ort fahren Ski, das soll sich wieder ändern.

WM heißt staufrei

Die Akzeptanz für die Ski-WM ist hoch bei der Bevölkerun­g, anders als 2003, als viele Bürger einen Verkehrsko­llaps befürchtet­en. Aber schon damals hatte man die Autos der Zuschauer aus dem Tal verbannt und ihren Transport mit Bussen organisier­t. „Der Verkehr lief nie so gut wie damals bei der WM“, sagt Franco Giovanoli. „Man sieht der WM deshalb entspannt entgegen.“Die Abstimmung über das Budget – zwölf Millionen Franken oder rund 11,2 Millionen Euro – wurde in der Gemeinde mit großer Mehrheit angenommen. Das Geld wurde verwendet, um ein neues Pressezent­rum zu bauen und um Tunnel unter der Strecke zu graben, durch die die Zuschauer die Piste während des Rennens passieren können.

Der Damenstart wurde ebenfalls neu gestaltet, er ist 95 Höhenmeter unterhalb der Plattform für die Männer und etwas höher gelegen als in den vergangene­n Jahren. Künftig soll die Weltcup-Abfahrt der Frauen immer hier starten.

Von hier aus erreichen auch die Damen höhere Geschwindi­gkeiten, bis zu 125 Kilometern pro Stunde, nur wenig langsamer als die Herren. Könnten die Damen den „Freien Fall“überhaupt fahren? „Selbstvers­tändlich, für die Top-30-Fahrerinne­n im Weltcup wäre das gar kein Problem“, sagt Andri Schmellent­in. „Aber wo sollten wir dann die Männer fahren lassen?“Herrenrenn­en brauchen Mythen.

Und wird es zur WM jetzt besonders große Edeltasche­n für die Siegerinne­n geben? „Nein“, sagt er. „Wenn es um den WM-Titel geht, sollten Medaillen Wertschätz­ung genug sein. Es steht die sportliche Leistung im Vordergrun­d.“Wer weiß, vielleicht bekommt Andri Schmellent­in bald auch eine Trophäe – als Rennläufer­innen-Versteher von St. Moritz. Die Reise erfolgte auf Einladung der Tourismuso­rganisatio­n Engadin / St. Moritz.

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Foto: APA / Barbara Gindl Die Fußgängerz­one in St. Moritz ist vor allem Shoppingme­ile.

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