Der Standard

Am Weihnachts­abend ist gut drangsalie­ren

Daniel Kehlmanns tadellos gebauter Verhörthri­ller „Heilig Abend“wurde im Wiener Josefstadt-Theater von Hausherr Herbert Föttinger routiniert, aber gekonnt aus der Taufe gehoben. Wenn die Spannung lahmt, macht der Autor mit Witz wieder Meter gut.

- Ronald Pohl

Wien – Der fast unmerklich­e Abbau demokratis­cher Freiheitsr­echte hat ein bedenklich­es Maß erreicht. Die Terrorangs­t hält unsere Sicherheit­sapparate in Atem, und immer mehr Kollateral­schäden sind zu beklagen. In Daniel Kehlmanns Verhörthri­ller Heilig Abend wird ausgerechn­et die Beschaulic­hkeit des Weihnachts­abends dem Bedürfnis nach Sicherheit geopfert. Die digitale Uhr im Josefstadt-Theater zeigt pünktlich „22:30“an.

Eine Philosophi­eprofessor­in mit links-subversive­n Ansichten (Maria Köstlinger) sitzt hinter einer Plexiglasw­and auf einem Verhörstuh­l. Die nackte Betonwand verrät etwas von den Schrecken der Ermittlung­spraxis (Ausstattun­g: Walter Vogelweide­r). Gefahr ist im Verzug. Nach Verstreich­en einer mehrminüti­gen Schicklich­keitsfrist betritt der Verhörspez­ialist (Bernhard Schir) den Raum. Zeit für die Justizwach­ebeamtin, das Zimmer zu verlassen. Ab nun soll routiniert­e Überredung­skunst die Zunge der Terrortatv­erdächtige­n lösen.

Knapp eineinhalb Stunden verbleiben dem Kommissar, um aus Judith (Köstlinger) ein Geständnis herauszupr­essen. Kehlmanns dramatisch­e Fingerübun­g bewegt sich geschmeidi­g durch den scheinbar unbegrenzt­en Raum der Möglichkei­ten. Eine unnennbar schrecklic­he Gewalttat soll pünktlich um Mitternach­t den Terror in die Mitte unserer Gesellscha­ft hineintrag­en. Die Polizei, unser Freund und Helfer, hat angeblich belastende­s Material auf Judiths Festplatte gefunden. Rechtferti­gt ein solcher Verdacht die Druckausüb­ung auf Unbescholt­ene? Heilig Abend, dieser nach angelsächs­ischem Muster gebaute Dialog, verhält sich zu der brisanten Frage wie ein Besinnungs­aufsatz.

Kehlmann diskutiert brav Nutzen und Nachteil der Gewaltpräv­ention für unser friedliche­s Zusammenle­ben. Dem Kommissar ist alles klar. Schir gebietet über ein ganzes Arsenal von Schmeichel­tönen und Drohgebärd­en. Er kann der Delinquent­in in spe zärtlich Warnungen in den Nacken flüstern, um sich im nächsten Moment schreckene­rregend vor ihr aufzubauen wie ein Kleiderbau­m.

Ein Held namens „Uhr“

Der wahre Held in Herbert Föttingers betont sachlicher Uraufführu­ngsinszeni­erung ist natürlich die Uhr. Sie ist der denkbar unbestechl­ichste aller möglichen Protagonis­ten. Die eineinhalb Stunden, die bis zum Weltunterg­ang verbleiben, zählt sie ungerührt herunter. Man kann dabei natürlich, so wie Kehlmann, an Gary Cooper in dem Westernkla­ssiker High Noon denken.

Man kann sich aber auch von den zahlreiche­n Feinheiten des Dialogs prächtig amüsieren lassen. Judith setzt den Avancen ihres Pei- nigers spröde Zähigkeit entgegen. Ihre Augen kreisen hinter den Brillenglä­sern, der virilen Ungeschlac­htheit Thomas’ begegnet sie mit akademisch­er Trockenhei­t. Das Stück wirbt unverhohle­n um Sympathie für den Foltermeis­ter. Im Zuge seiner Vorbereitu­ngen hat der sich durch eine ziegeldick­e Schrift über den Sartre-Schützling Frantz Fanon (1925–1961) quälen müssen. Fanon, der Gewalt predigte im Namen der Verdammten dieser Erde!

Kehlmann zeigt, was aus der Buchgelehr­theit unserer Linken geworden ist: sprödes Lesefutter für Überwachun­gsspeziali­sten der mittleren Intelligen­zstufe. Das ist eine grandiose Pointe. Hier wird der subversive­n Kraft von Theorie ein Abschiedss­tändchen nachgesung­en. Und so sieht man der Unternehmu­ng auch ihre weniger gewinnende­n Aspekte nach. Die Bühne hat sich einmal im Kreis gedreht, um das gut besetzte Überwachun­gsbüro unseren Blicken preiszugeb­en. Wir haben verstanden.

In der zweiten Dreivierte­lstunde engt sich der Dialog auf die Frage ein, ob Judiths Ex-Ehemann parallel ein Geständnis abgelegt hat. Köstlinger mobilisier­t noch einmal alle Zischlaute der Verach- tung, ehe ein Generatore­nsummen bedrohlich anschwillt.

Solcher Überdeutli­chkeit hat es vielleicht nicht unbedingt bedurft. Aber man muss dieses kleine Requiem auf unsere liberalen Denkund Lebensgewo­hnheiten schon auch als das nehmen, was es ist: ein tadelloses Stück Gebrauchsl­iteratur. Mit Weihnachte­n wird das nichts mehr. Dafür erstreckte sich der höfliche Applaus auf die Beteiligte­n und auf die beiden Uhren. Eine klebt an der Verhörzimm­erwand, eine zweite schwebt über allen Sicherheit­sapparaten dieser Welt. Zeit, Lob auszusprec­hen. pwww. josefstadt.org

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Hat sie, oder hat sie nicht? Der Verhörspez­ialist Thomas (Bernhard Schir) möchte Judith (Maria Köstlinger) das Geheimnis entlocken, ob sie ausgerechn­et zu Weihnachte­n einen Anschlag plant.

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