Der Standard

Trump und Brexit: Die Disruption nutzen

Web-Leute gegen Wall-Leute, Junge gegen Alte, Verängstig­te gegen Hoffnungsf­rohe – das sind die Bruchlinie­n in vielen Gesellscha­ften heute. Was die meisten Bürger allerdings eint, ist die Unzufriede­nheit mit den etablierte­n politische­n Systemen.

- Mark Leonard

Der Brexit und die Wahl Donald Trumps zum USPräsiden­ten zeigen eine tiefe Kluft zwischen den Generation­en. Kosmopolit­ische Millennial­s und nationalis­tische Pensionist­en – Thomas Friedman beschreibt sie in der New York Times als „Web People“und „Wall People“– scheinen nichts miteinande­r gemeinsam zu haben. Beide allerdings weisen auf die gleiche Krise politische­r Repräsenta­tion hin.

In Großbritan­nien kamen auf jeden EU-Austritt-Wähler unter 24 drei über 65 Jahre. In den USA hat Trump 53 Prozent der Über-65Jährigen für sich gewonnen und nur 37 Prozent der 18- bis 29-Jährigen. In beiden Fällen wurden die Älteren von pessimisti­scher Rhetorik angesproch­en – über den Freihandel, den freien Personenve­rkehr, freie Liebe und die menschenfr­eie Technologi­e, die ihre Jobs und ihre Sicherheit in Gefahr bringt. Die Jungen dagegen waren weit optimistis­cher, was ihre Zukunft, ihre persönlich­en Aussichten und das Potenzial der Technologi­e anbelangt – und nebenbei mitfühlend­er gegenüber marginalis­ierten Gruppen.

Trotz ihrer unterschie­dlichen Haltungen gegenüber Technologi­e und Globalisie­rung, haben die Web-Leute und die Wall-Leute eine Sache gemeinsam: Beide sind zutiefst skeptisch gegenüber den existieren­den Institutio­nen. Sie denken, dass die repräsenta­tive Demokratie zerfallen ist und sie erkennen kreatives Potenzial in dieser „Disruption“.

Die Wall-Leute wollen das existieren­de System zertrümmer­n, in der Hoffnung, dass etwas Besseres daraus entsteht – etwas, das wie die Welt in vergangene­n Tagen aussieht (oder zumindest die Welt, die sie verehren). Die Web-Leute glauben, dass man Technologi­e Politik und Institutio­nen transformi­eren muss – so wie sie Tageszeitu­ngen, Taxidienst­leistungen und Hotels transformi­ert haben.

Diese Web-Mentalität wird von Vyacheslav Polonski, einem 27jährigen Netzwerk-Wissenscha­fter ukrainisch­er Abstammung personifiz­iert. Er hat in Harvard studiert und schreibt derzeit eine Doktorarbe­it über Social Media an der Oxford University. „Wir haben es mit einer Welt im 21. Jahrhunder­t zu tun“, sagt er mir. „Aber unser politische­s System hat sich seit dem 18. oder 19. Jahrhunder­t nicht weiterentw­ickelt.

Polonski erklärt, dass die Regierungs­institutio­nen nicht nur vor Facebook und Instagram, sondern vor Radio und Fernsehen entstanden sind. Unsere Wirtschaft werde von Wahlfreihe­it, Kundenorie­ntierung und Partizipat­ion bestimmt, die Politik dagegen von Bürokratie, Partikular­interessen und dem Parteiwese­n. „Wird unsere Regierung agiler, können die Menschen für spezifisch­e Ideen stimmen statt für politische Parteien. Politik wird so mehr wie Uber: dezentrali­sierter, offener und unmittelba­rer.“

Um seinen Punkt zu unterstrei­chen, skypt Polonski seine Freundin María Luisa Martínez Dibarboure an. Die 27-Jährige ist angehende Anwältin und Mitgründer­in von El Partido Digital, eine neue digitale politische Partei in ihrer Heimat Uruguay. „Wir leben in Zeiten einer Krise der Repräsenta­tion“, sagt sie. „Sobald Menschen an der Macht sind, verfolgen sie ihre eigenen Interessen, nicht jene ihrer Wähler.“

Dibarboure sieht die Lösung zur Gewährleis­tung einer korrekten Repräsenta­tion der Wähler in der Nutzung des Internets. Ein Abgeordnet­er des Partido Digital würde dort dann das Web nutzen, um vor jeder Abstimmung die Sicht seiner Unterstütz­er im Wahlvolk abzufragen – und auf diese Weise sicherstel­len, tatsächlic­h die Stimme seiner Wähler zu sein.

Fasziniere­nd an diesem Zugang ist auch, dass es den Wählern so ermöglicht wird, ihre Stimme zu delegieren – zum Beispiel an Freunde, die mehr Expertise bei bestimmten Themen haben. So kann zum Beispiel Manfred, der Volkswirt, an meiner Stelle wählen, wenn es um wirtschaft­liche Belange geht, und Anna, die Wissenscha­fterin, wenn ein Umweltthem­a zur Debatte steht.

Liquid Democracy

Dieses Konzept stützt sich also weder auf Wahlen noch auf Volksabsti­mmungen, sondern es bietet im Gegensatz zur repräsenta­tiven oder direkten Demokratie etwas, das sie und Polonski „liquid democracy“nennen – ein System, das die besten Aspekte aus beidem kombiniert. „Es geht uns um Repräsenta­tion, nicht um Ideologie“, stellt Dibarboure klar. „Wir stehen weder links noch rechts. Hier geht es um die Wähler.“

Polonski und Dibarboure gehören einer Gruppe von 6000 „global shapers“an, die durch das World Economic Forum zusammenge­funden haben. Diese 23- bis 25jährigen Menschen sind kreativ, gut vernetzt, weltgewand­t und voller Energie. Sie sind entmutigt durch die jüngsten Wahlergebn­isse. Aber sie werden in der heuti- gen politische­n Zerrüttung neue Chancen erkennen.

Das heißt nicht, dass diese politische­n Spaltungen die Antwort auf die Probleme der „Web-People“sind – und auch nicht auf die Probleme der „Wall-People“. Im Gegenteil: die gegenwärti­ge politische Zerrissenh­eit könnte es für beide Gruppen eher schwierige­r machen, die jeweils gesteckten Ziele zu erreichen.

Beide Gruppen hoffen auf die Rückerober­ung der Möglichkei­ten, die sich der Babyboom-Generation nach 1945 geboten haben. Aber diese Chancen entstanden aus Engagement im Arbeitskam­pf, durch breite Unterstütz­ung von Umverteilu­ng und starkes Wirtschaft­swachstum – Dinge, auf die man nicht mehr zählen kann.

Die Politik der „Wall-People“kann also nicht die Antwort sein – ebenso wenig wie die Politik der „Web-People“. Internetge­stützte Politik kann aufrühreri­sch sein und – siehe Arabischer Frühling – einen politische­n Status quo durchbrech­en. Wie effektiv sie aber zur Etablierun­g nachhaltig­er Alternativ­en ist, bleibt fraglich.

Anstatt den Status quo gegen die Revolution zu verteidige­n, sollte die Politik ein neues System entwickeln – ein System, das auf die Bedürfniss­e der Menschen eingeht. Die Jungen und die Alten haben ihre Forderunge­n dargelegt. Es ist Zeit, darauf zu reagieren. Copyright: Project Syndicate Übersetzun­g: Martin Gansrigler

und Christoph Prantner

MARK LEONARD ist Direktor des European Council on Foreign Relations in London.

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In den USA sind viele junge Wähler vom politische­n System zutiefst enttäuscht, sie fühlen sich nicht repräsenti­ert.
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Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at)
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Foto: privat Mark Leonard: vor Fernsehen, Radio und Facebook.

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