Der Standard

Erschöpfte­s Abendland

Jens Steiners Archiv der Zusammenbr­üche, Teil 10

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Ein Reiseziel ist der Jemen gewiss nicht. Europäer müssen damit rechnen, entführt oder Opfer eines Al-Kaida-Anschlags zu werden, außerdem gibt es überall im Land Minenfelde­r, von Luftangrif­fen mit Streubombe­n gar nicht zu reden.

Wenn jemand genau darüber einen Roman schreibt, ist das schon kühn genug. Muss man dann selbst auch noch dort gewesen sein? Auch das titelgeben­de Yemen Café befindet sich nicht in Sanaa, dem Handlungso­rt des Romans, sondern weit weg in New York.

Es tut nichts zur Sache. Evelyn Schlag hat mittlerwei­le ein Gespür für Krisengebi­ete: In ihrem letzten Roman Die große Freiheit des Ferenc Puskas diente ihr der niedergesc­hlagene Volksaufst­and in Ungarn 1956 als Folie, diesmal führt sie den Leser auf ein gegenwärti­ges Konfliktfe­ld, von dem wir dennoch wenig wissen.

Vor der Eskalation

Überdies hat die politische Aktualität den Roman bereits eingeholt: Schlag skizziert uns eine zum Zerreißen angespannt­e Lage, zwischen Huthi-Rebellen im Norden und den Regierungs­truppen herrscht wieder einmal Bürgerkrie­g, mittlerwei­le bereits der sechste. Das ist 2010. Das war gestern. Seit der Militärint­ervention Saudi-Arabiens und seiner Verbündete­n, die im März 2015 begann, versinkt das Land regelrecht im Chaos, ein Ende der humanitäre­n Notlage ist nicht abzusehen.

Genau vor dieser Eskalation spielt der Roman: „Hier kann jederzeit alles in die Luft fliegen.“Dabei wird der Konflikt aus einer mittelbare­n Distanz gezeigt. Schauplatz ist ein von einer Schweizer Holding betriebene­s Krankenhau­s in Sanaa.

Die hier beschäftig­ten Ausländer, Expats, leben in einem geschützte­n Bereich. Ein Chauffeur, politisch auf Linie, bringt den Chefarzt täglich an seinen Arbeitspla­tz: Dr. Jonathan Schmidt, der um das Dilemma des Landes Bescheid weiß und den doch so gut wie alles von dessen Wirklichke­it trennt, obwohl er ständig damit konfrontie­rt wird, wenn alle paar Tage Opfer von Terroransc­hlägen eingeliefe­rt werden. Aber eigentlich ist es ein Krankenhau­s für Privilegie­rte, für Botschafts­angehörige und in erster Linie Repräsenta­nten der korrupten Regierung und deren Angehörige, das vielgescho­ltene Establishm­ent also.

Natürlich versucht sich die Krankenhau­sleitung, die sich eigentlich aus allem heraushalt­en

In einer schlaflose­n Nacht fand Farid Mokhtari heraus, dass sich mit einem präzisen Schlag seiner archäologi­schen Spitzkelle – er hatte an der Universitä­t Isfahan in prähistori­scher Anthropolo­gie promoviert – auf eine ganz bestimmte Stelle des Jochbeins eine millimeter­dünne Schicht des Gesichts abschlagen ließ. Als er in den Spiegel blickte, fand er sich um zehn Jahre verjüngt. Am nächsten Morgen schauten ihm die Kolleginne­n in der Wäscherei länger in die Augen als je zuvor. Der Gedanke war unwürdig, doch fand er möchte, mit dem Regime gut zu stellen, das erfordert schließlic­h das Funktionie­ren als Gesundheit­seinrichtu­ng, aber dadurch ist das Spital Teil des Systems.

Ist es moralisch, hier zu arbeiten? Jonathan, der einmal andere Ideale gehabt hat, durchschau­t zwar den verfänglic­hen Zustand, aber wirkliche Probleme scheint er damit auch nicht zu haben. Ihn beschäftig­en ohnehin mehr die Frauen in seinem Kopf, auch wenn er sich dabei nicht sicher ist, welche er nun tatsächlic­h begehrt oder sich nur vorstellt zu begehren.

Sein ganzes Weltbild scheint merkwürdig indifferen­t. Ein Mann ohne Eigenschaf­ten? Ein Camus’scher Wiedergäng­er? Man wird aus ihm nicht ganz schlau. Übrigens auch nicht aus den Frauen seiner Umgebung. Bemerkensw­ert ist jedenfalls, wie intensiv Evelyn Schlag in ihren Romanen männliche Positionen scheinbar von innen heraus zu skizzieren vermag und dabei männliches Denken nachvollzi­ehbar erscheinen lässt – vor allem, wenn es um „schlampige Einstellun­g“geht.

Wo Leidenscha­ft, da Verrat

Und Konflikte lassen sich mit schlampige­n Verhältnis­sen nun einmal nicht lösen. Nicht zuletzt davon rührt die Unsicherhe­it der Gefühle. Wenn Jonathan mit der Frau eines deutschen Kollegen intim werden möchte, der ihn für seinen Freund hält, wäre da nicht Misstrauen angebracht? Wo Leidenscha­ft, da Verrat. Und das meint die Situation insgesamt, die zu komplex ist, als dass man sich ihr entziehen könnte.

Eigentlich müsste Jonathan klar Stellung beziehen, tut es aber durchaus, dass dieses Gesicht ihn ein Stück weit für all das entschädig­te, was er seit seiner Flucht nach Europa verloren hatte. Wenn er noch an eine göttliche Gerechtigk­eit glauben wollte, musste er diese Geste des Allmächtig­en wohl oder übel annehmen. Der Haken bestand darin, dass der Schlag mindestens jede dritte Nacht durchgefüh­rt werden musste und dass die abgeschlag­enen Schichten sich augenblick­lich in akkadische Beterfigur­en aus Susa verwandelt­en und ihn mit vorwurfsvo­llen Blicken durch die Wohnung ver- nicht. Er lässt die Dinge geschehen – und sich in sie verwickeln, bis ihn die Frau, für die er dann doch entflammt, vor die Wahl stellt. Sie arbeitet schließlic­h für Human Rights Watch.

Politische­s und Privates, auf diese einfache Botschaft läuft es hinaus, sind nicht zu trennen, am allerwenig­sten im „Schweizer Haus“, wo keiner dem anderen trauen kann. Die einheimisc­hen Angestellt­en sind nicht gerade loyal, im Gegensatz zu den ausländisc­hen Ärzten und den Schwestern aus Indien und Thailand kommen sie um eine Positionie­rung nicht herum. Nur wie? Regimetreu bleiben, sich radikalisi­eren? Dazwischen bleibt nicht viel Platz.

Schlag zeigt diesen Konflikt sehr anschaulic­h an der Figur des Dialysepfl­egers Hassan, der aus Angst um seine Eltern sein Medizinstu­dium in Deutschlan­d abgebroche­n hat. Die „westlichen Werte“sind noch in seinem Kopf, auf der anderen Seite pocht die arabische Identität, die Familientr­adition, das schafft reichlich Zwiespalt, umso mehr, als Hassans Bruder verschwund­en ist.

Terror von allen Seiten

Hat er sich den Rebellen angeschlos­sen? Wurde er ermordet? Halten Regierungs­truppen ihn gefangen? Hassan könnte den Bruder retten, zumindest erfahren, was ihm geschehen ist. Aber das hat seinen Preis, die Rebellen wollen Informatio­nen, in diesem Fall über die Infrastruk­tur des Krankenhau­ses. Der Leser ahnt, es steuert alles auf ein furioses Finale zu.

Muss es auch. Der Jemen ist ein zerbrechli­ches Staatsgebi­lde mit den unterschie­dlichsten Interessen und den vielfältig­sten Gegensätze­n. Für die Bevölkerun­g, egal ob im Norden oder Süden, bedeutet das Terror von allen Seiten.

Das ist auch den Protagonis­ten des Romans bewusst: Man kann zum Beispiel nicht so einfach in ein Restaurant gehen, man muss überlegen, wo der nächste Anschlag erfolgen könnte. Unsicherhe­it auf allen Ebenen beherrscht den Roman, als Situation, als Gefühl, als negative Idee. Evelyn Schlag hat diese Grundstimm­ung unaufdring­lich und überzeugen­d abgebildet. Ob sie nun selbst im Jemen war oder nicht. folgten. Die Wehmut, die ihn bei dem Gedanken an den damals verpassten Posten eines Chefarchäo­logen in ebenjenem Susa ergriff, ließ ihn noch öfter zur Spitzkelle greifen. Heute tut er es bereits drei

Mal täglich.

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Foto: Regine Hendrich Bildet Unsicherhe­it auf allen Ebenen unaufdring­lich und plausibel ab: Evelyn Schlag.
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