Brexit als Herkulesaufgabe
Der Antrag auf den EU-Austritt nach Artikel 50 ist der leichteste Teil des Brexit-Prozesses. In den nächsten Jahren müssen britische Behörden tausende EU-Verordnungen und Entscheidungen prüfen und entscheiden, was sie ins nationale Recht überleiten.
Britische Behörden müssen tausende EU-Verordnungen und Entscheidungen hinsichtlich nationalen Rechts prüfen.
London/Wien – Vergangene Woche hat das britische Unterhaus das Gesetz über die Ermächtigung der Regierung zur Einleitung des Austritts aus der Union verabschiedet. Die notwendige Zustimmung des Oberhauses gilt als sehr wahrscheinlich, sodass die Regierung die notwendige Mitteilung gem. Art 50 (2) VAEU an den Europäischen Rat wie angekündigt bis Ende März absenden kann.
Damit ist die Büchse der Pandora endgültig geöffnet. Während alle Blicke gebannt auf die politischen Verhandlungen zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich gerichtet sind („harter“oder „weicher“Brexit), geht es aus juristischer Sicht unabhängig davon um die Bewältigung folgender Herkulesaufgabe:
Gemäß den Verträgen der Union endet die Mitgliedschaft eines Staates zwei Jahre nachdem der Antrag auf Austritt gestellt wurde, sofern nicht ein abweichendes Datum zwischen den Vertragsteilen einvernehmlich festgelegt wurde. Mit der Beendigung der Mitgliedschaft fallen auch alle gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen weg, die einen ganz wesentlichen Teil der heutigen britischen Rechtsordnung ausmachen.
Dazu zählt primär das gesamte unmittelbar geltende und unmittelbar anwendbare Recht der Union. Dieses setzt sich zusammen aus den Verträgen der Union, internationalen Verträgen, den er- lassenen EU-Verordnungen und unter bestimmten Umständen auch aus Richtlinien, soweit diese unmittelbare Wirkung haben. Schließlich sind auch noch Entscheidungen zu nennen, die ebenfalls unmittelbar wirksam oder anwendbar sein können.
In den Rechtsbestand des Vereinigten Königreiches sind all diese Normen dogmatisch durch den Beitrittsvertrag gelangt (European Communities Act 1972, ECA). Nunmehr soll ein neues Gesetz (The Great Repeal Bill) den ECA aufheben, womit alle bestehenden „automatisch übernommenen“Normen wegfallen würden. Dies würde zu einem veritablen Rechtsvakuum führen, welches nicht akzeptabel wäre. Tausende wegfallende Verordnungen würden eine unüberbrückbare Lücke hinterlassen, die so schnell nicht aufgefüllt werden könnte.
EU-Recht gilt vorerst weiter
Um dieses Regelungschaos zu vermeiden, hat nun die Regierung angekündigt, EU-Recht so weit ins britische Recht zu übernehmen, wie dies für das Land tunlich ist, und zwar so lange, wie die Regierung und das Parlament brauchen, um zu entscheiden, was mit ihnen im Einzelfall geschehen soll.
Die Anzahl der zu beurteilenden Rechtsquellen und Rechtsakte ist beeindruckend. Wer schon einmal mit den Verträgen der Union zu tun hatte, weiß ob deren Komplexität. Gleiches gilt für die vorhandenen Verordnungen. Einer aktu- ellen Studie des Unterhauses vom Januar dieses Jahres zur Folge sind allein 3556 Verordnungen der Kommission und 1850 Verordnungen des Rates oder des Europäischen Parlamentes und des Rates, somit also weit mehr als 5400 Verordnungen zu prüfen und je nach Bedarf in den britischen Rechtsbestand zu übernehmen. Davon noch nicht umfasst sind fast 250 delegierte Verordnungen und fast 2000 Implementierungsverordnungen. Dazu kommen noch mehr als 7000 EU-Entscheidungen, die ebenfalls auf deren Transpositionsnotwendigkeit hin zu prüfen sein werden.
All das betrifft – wie gesagt – nur die unmittelbar anwendbaren Normen. Soweit diese „national“umgesetzt worden oder befolgt worden sind – zum Beispiel durch abgeleitete Normen, Gerichtsent- scheidungen oder Verwaltungspraxis –, stellt sich die Frage, wie sie in Zukunft behandelt werden sollten. Insbesondere Fragen der Präjudizialität und damit Rechtsverbindlichkeit für die Zukunft werden sich vermehrt stellen.
Herausforderung Schottland
Viele der genannten Herausforderungen werden dadurch noch zusätzlich erschwert, dass das Vereinigte Königreich im Gegensatz zu Österreich kein einheitlicher Rechtsraum mehr ist. Die Verfassung hat mit dem System der Devolution bestimmte hoheitliche Rechte an die Nationen wie Schottland übertragen. Bei der beschriebenen Umsetzungsproblematik werden auch diese Aspekte zu berücksichtigen sein. Dies gilt umso mehr für die Sonderzonen wie Gibraltar.
Betrachtet man diese Herausforderungen nüchtern, so kann man nur mit den Kritikern übereinstimmen: Die Überprüfung und Überleitung des unmittelbar anwendbaren EU-Rechtsbestandes in britische, englische, walisische, schottische und nordirische Rechtsnormen wird eine noch nie da gewesene Herausforderung für Verwaltung und Politik. Die von den Proponenten des Brexit versprochenen (hypothetischen) Einsparungen von Zahlungen an die EU werden wohl nicht ins Gesundheitssystem gehen, sondern in die explodierende Verwaltung. Für die Juristen des Landes ist das keine schlechte Nachricht.