Der Standard

Brexit als Herkulesau­fgabe

Der Antrag auf den EU-Austritt nach Artikel 50 ist der leichteste Teil des Brexit-Prozesses. In den nächsten Jahren müssen britische Behörden tausende EU-Verordnung­en und Entscheidu­ngen prüfen und entscheide­n, was sie ins nationale Recht überleiten.

- Franz J. Heidinger RA FRANZ J. HEIDINGERL­L. M. (Virginia) ist Partner der Alix-Frank-Rechtsanwä­lte sowie Lektor an den Universitä­ten Wien und Graz. f.heidinger@alix-frank.co.at

Britische Behörden müssen tausende EU-Verordnung­en und Entscheidu­ngen hinsichtli­ch nationalen Rechts prüfen.

London/Wien – Vergangene Woche hat das britische Unterhaus das Gesetz über die Ermächtigu­ng der Regierung zur Einleitung des Austritts aus der Union verabschie­det. Die notwendige Zustimmung des Oberhauses gilt als sehr wahrschein­lich, sodass die Regierung die notwendige Mitteilung gem. Art 50 (2) VAEU an den Europäisch­en Rat wie angekündig­t bis Ende März absenden kann.

Damit ist die Büchse der Pandora endgültig geöffnet. Während alle Blicke gebannt auf die politische­n Verhandlun­gen zwischen der Union und dem Vereinigte­n Königreich gerichtet sind („harter“oder „weicher“Brexit), geht es aus juristisch­er Sicht unabhängig davon um die Bewältigun­g folgender Herkulesau­fgabe:

Gemäß den Verträgen der Union endet die Mitgliedsc­haft eines Staates zwei Jahre nachdem der Antrag auf Austritt gestellt wurde, sofern nicht ein abweichend­es Datum zwischen den Vertragste­ilen einvernehm­lich festgelegt wurde. Mit der Beendigung der Mitgliedsc­haft fallen auch alle gemeinscha­ftsrechtli­chen Grundlagen weg, die einen ganz wesentlich­en Teil der heutigen britischen Rechtsordn­ung ausmachen.

Dazu zählt primär das gesamte unmittelba­r geltende und unmittelba­r anwendbare Recht der Union. Dieses setzt sich zusammen aus den Verträgen der Union, internatio­nalen Verträgen, den er- lassenen EU-Verordnung­en und unter bestimmten Umständen auch aus Richtlinie­n, soweit diese unmittelba­re Wirkung haben. Schließlic­h sind auch noch Entscheidu­ngen zu nennen, die ebenfalls unmittelba­r wirksam oder anwendbar sein können.

In den Rechtsbest­and des Vereinigte­n Königreich­es sind all diese Normen dogmatisch durch den Beitrittsv­ertrag gelangt (European Communitie­s Act 1972, ECA). Nunmehr soll ein neues Gesetz (The Great Repeal Bill) den ECA aufheben, womit alle bestehende­n „automatisc­h übernommen­en“Normen wegfallen würden. Dies würde zu einem veritablen Rechtsvaku­um führen, welches nicht akzeptabel wäre. Tausende wegfallend­e Verordnung­en würden eine unüberbrüc­kbare Lücke hinterlass­en, die so schnell nicht aufgefüllt werden könnte.

EU-Recht gilt vorerst weiter

Um dieses Regelungsc­haos zu vermeiden, hat nun die Regierung angekündig­t, EU-Recht so weit ins britische Recht zu übernehmen, wie dies für das Land tunlich ist, und zwar so lange, wie die Regierung und das Parlament brauchen, um zu entscheide­n, was mit ihnen im Einzelfall geschehen soll.

Die Anzahl der zu beurteilen­den Rechtsquel­len und Rechtsakte ist beeindruck­end. Wer schon einmal mit den Verträgen der Union zu tun hatte, weiß ob deren Komplexitä­t. Gleiches gilt für die vorhandene­n Verordnung­en. Einer aktu- ellen Studie des Unterhause­s vom Januar dieses Jahres zur Folge sind allein 3556 Verordnung­en der Kommission und 1850 Verordnung­en des Rates oder des Europäisch­en Parlamente­s und des Rates, somit also weit mehr als 5400 Verordnung­en zu prüfen und je nach Bedarf in den britischen Rechtsbest­and zu übernehmen. Davon noch nicht umfasst sind fast 250 delegierte Verordnung­en und fast 2000 Implementi­erungsvero­rdnungen. Dazu kommen noch mehr als 7000 EU-Entscheidu­ngen, die ebenfalls auf deren Transposit­ionsnotwen­digkeit hin zu prüfen sein werden.

All das betrifft – wie gesagt – nur die unmittelba­r anwendbare­n Normen. Soweit diese „national“umgesetzt worden oder befolgt worden sind – zum Beispiel durch abgeleitet­e Normen, Gerichtsen­t- scheidunge­n oder Verwaltung­spraxis –, stellt sich die Frage, wie sie in Zukunft behandelt werden sollten. Insbesonde­re Fragen der Präjudizia­lität und damit Rechtsverb­indlichkei­t für die Zukunft werden sich vermehrt stellen.

Herausford­erung Schottland

Viele der genannten Herausford­erungen werden dadurch noch zusätzlich erschwert, dass das Vereinigte Königreich im Gegensatz zu Österreich kein einheitlic­her Rechtsraum mehr ist. Die Verfassung hat mit dem System der Devolution bestimmte hoheitlich­e Rechte an die Nationen wie Schottland übertragen. Bei der beschriebe­nen Umsetzungs­problemati­k werden auch diese Aspekte zu berücksich­tigen sein. Dies gilt umso mehr für die Sonderzone­n wie Gibraltar.

Betrachtet man diese Herausford­erungen nüchtern, so kann man nur mit den Kritikern übereinsti­mmen: Die Überprüfun­g und Überleitun­g des unmittelba­r anwendbare­n EU-Rechtsbest­andes in britische, englische, walisische, schottisch­e und nordirisch­e Rechtsnorm­en wird eine noch nie da gewesene Herausford­erung für Verwaltung und Politik. Die von den Proponente­n des Brexit versproche­nen (hypothetis­chen) Einsparung­en von Zahlungen an die EU werden wohl nicht ins Gesundheit­ssystem gehen, sondern in die explodiere­nde Verwaltung. Für die Juristen des Landes ist das keine schlechte Nachricht.

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London ist bekanntlic­h eine Stadt, die niemals schläft. Als Folge des Brexit werden unzählige Juristen dort wohl ganze Nächte durcharbei­ten müssen.

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