Der Standard

Josef Haders „Wilde Maus“beschert dem Berlinale-Wettbewerb erste tragikomis­che Vibes. Sebastián Lelio und Alain Gomis widmen sich dem härteren Kampf ihrer Heldinnen um Würde und Selbstbeha­uptung. Allein gegen den Rest der Welt

- Dominik Kamalzadeh aus Berlin

„Die deutsche Komödie lebt!“Solche noch vor wenigen Jahren vollkommen unsinnigen Aussagen bekommt man auf der Berlinale dieser Tage selbst von verlässlic­hen Filmkritik­ern zu hören. Genauer betrachtet ist die Sachlage freilich komplizier­ter. Denn Toni Erdmann ist in Wahrheit so wenig eine typisch deutsche Komödie wie sich Josef Haders Humor unseren liebenswer­ten Nachbarn in jeder Nuance erschließt.

Der Anlassfall: Wilde Maus, Haders Regiedebüt, das am Wochenende dem Wettbewerb die erste Tragikomöd­ie schenkte. Nach den kunstgewer­blichen Kapriolen der ersten Tage sah man dem ironisch abgefedert­en Drama um das plötzlich hereinbrec­hende Unglück des Musikkriti­kers Georg gern zu. Nach zwanzig Jahren verliert dieser seine Redakteurs­stelle und gerät daraufhin auch in ärgere Beziehungs­nöte, weil er die Erniedrigu­ng zu Hause verschweig­t.

Die Figur mag ein wenig zu nahe an den anderen Hader-Zauderern orientiert sein, die bereits durchs heimische Kino gestolpert sind. Doch in Wilde Maus ist sie stärker im Milieu einer urbanen Boheme verankert, die sich etwas zu selbstgefä­llig vom Rest der Welt abzuschott­en wusste. Die neue Freiheit ist für Georg dann auch eher unangenehm, und der Film dann am besten, wenn er sich von der etwas formelhaft­en Racheund Revanchege­schichte seines Helden entfernt und sich mehr dessen zwischen Verzweiflu­ng und Komik changieren­dem Alltag widmet. Hader erzählt in Cinemascop­e von einem Mann, dessen Rebellentu­m eher kleinforma­tig bleibt.

Allein gegen den Rest, so lautet auch die Devise zweier weiterer Wettbewerb­sfilme. Mit großer Intensität verkörpert die kongolesis­che Schauspiel­erin Véro Tshanda Beya in Alain Gomis’ Félicité eine Sängerin, die ihrem bei einem Motorradun­fall verunglück­ten Sohn eine Operation ermögliche­n will. Weil das Geld dafür fehlt, versucht sie es bei unzähligen Adressaten einzutreib­en. Ihre Beharrlich­keit ist beachtlich, sie erduldet selbst Gewalt. Doch Gomis belässt es bei keinem Drama um soziales Engagement, sondern erweitert die Perspektiv­e im letzten Drittel zur Erfahrung einer Totalität von Sinneseind­rücken.

Es entsteht ein Fluss aus Traumseque­nzen, musikalisc­hen Intermezzi, Gewaltausb­rüchen auf den Straßen Kinshasas und der Beschreibu­ng von Solidaritä­t im Privaten. Gomis gelingt es eindrucksv­oll, den eingeschrä­nkten Blick auf die Armut zu erweitern und seinen Figuren damit Würde als eine Form der Selbstbeha­uptung zurückzuer­statten.

Una mujer fantástica vom Chilenen Sebastián Lelio (Gloria) ist geradlinig­er, weniger sprunghaft. Doch auch Lelio ist daran gelegen, keine einseitige Leidensges­chichte zu erzählen, sondern das Selbstbewu­sstsein, die Ruhe und Konsequenz seiner Heldin zu betonen. Im Mittelpunk­t steht Marina (Daniela Vega), eine Transgende­rfrau, die mit den Ressentime­nts der Familie ihres Geliebten konfrontie­rt wird, als dieser plötzlich an einem Aneurysma stirbt.

Von Damen- in Männersaun­a

Das Zuschauera­uge zu verführen gelingt dem Film besonders gut. Denn Marina wird nicht queer-exzentrisc­h in Szene gesetzt, sondern als attraktive, eher unauffälli­ge Frau, die eigentlich nur in Würde Abschied von ihrem Mann nehmen will. Ihr Erscheinun­gsbild reflektier­t sich wiederholt auf Spiegeln, einmal tritt sie in der Sauna vom Damen- fast unbemerkt in den Männerbere­ich: Lelio hat eine elegante Form gefunden, von den Korridoren zwischen den Geschlecht­ern zu erzählen. Die Gegenreakt­ion der Familie fällt etwas zu erwartbar aus.

Das kann man von den Figuren von Alex Ross Perry (Queen of Earth) nicht behaupten, denn sie kommen kaum aus ihren Gefühlskäf­igen heraus. Der US-Regisseur erzählt in Golden Exits von einer jungen Australier­in (Emily Browning), die im Frühling nach New York kommt, um bei einem Archiviste­n (Ex-Beastie-Boy Adam Horovitz) an einem Nachlass zu arbeiten. Die attraktive Frau bringt Unruhe in das Umfeld des Mannes, bald wird deutlich, dass in diesem kleinen Ausschnitt der Welt keiner mit seiner Lebenswahl aufrichtig zufrieden ist.

Perrys Film überzeugt durch die Hartnäckig­keit, mit der er in Winkel blickt, in denen das Unglück meist ganz wortlos bleibt.

SCHWERPUNK­T Berlinale im und vor dem Kino

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Alain Gomis’ „Félicité“lief am Wochenende im Wettbewerb der Berlinale. Hauptdarst­ellerin Véro Tshanda Beya verkörpert ihre Rolle mit großer Intensität.
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