Der Standard

Mit harten Stiefeln statt weichem Herzen

„Wintermorg­en“: Mit einer Sammlung düsterer Novellen katapultie­rt sich der ungarische Prosaist László Darvasi in die erste Autorenrei­he seines Heimatland­es. Er malt eine Welt, in der einzig die Gewalt verbindet.

- Ronald Pohl

Wien – Die Helden in László Darvasis Novellen haben Pflichten, zu deren Erledigung sie nicht die geringste Lust verspüren. Jeden Abend setzt ein junger ungarische­r Dorfbewohn­er zum Beispiel seine Schubkarre in Bewegung. In der Erzählung Vater kommt heim ist es der Sendetermi­n einer beliebten Abendserie, der das Zeitmaß vorgibt. In Stiefeln mit „harten Spitzen“, die seinen ganzen Stolz bilden, stapft der Bursche los. Es ist der immer selbe Soundtrack, der ihn auf seinem rituellen Gang begleitet: Die Robinien rauschen „hässlich und beleidigt“, das Quietschen des Karrens bohrt sich in die Dunkelheit „wie der Korkenzieh­er in den Flaschenha­ls“.

Im versifften Wirtshaus schließlic­h liest er den Vater auf. Er fasst ihm unter die Arme und schmeißt ihn auf den Karren. Auf halbem Wege kippt er die Last auf die Straße und beginnt, den Bezechten mit Fußtritten zu malträtier­en. „Mach es ein paar Mal, und du bist es gewohnt, es ist in Ordnung“, schießt es dem braven Sohn mit den harten Stiefeln durch den Kopf. Anderntags erinnert sich der Erzeuger an nichts. Seine Rippen schmerzen, und er hat nicht die leiseste Ahnung, woher sein Unwohlsein rührt.

Doch Darvasi hat in dem trostlos-schönen Band Wintermorg­en 34 Novellen versammelt. Lauter „unerhörte Begebenhei­ten“(Goethe), die mit unentrinnb­arer Macht einem unerwartet­en Ausgang entgegenst­reben. Papas säkularer Kirchgang ins Wirtshaus endet nach vier Buchseiten in einem Massaker. Die eilig einbestell­ten Polizisten staunen nicht so sehr über die unfassbare Gewalt, die sich im Schutz der ungarische­n Dunkelheit, im Dunst billiger Alkoholika entladen hat. Sie bewundern ausgiebig das Schuhwerk: „Ich hatte auch mal solche Stiefel. Beschlagen?“– „Genau.“

In den Ruinen der vordem kommunisti­schen Lebenswelt gibt es nur noch eine Währung, die zählt. Es ist die Gewalt. Ihre Kaufkraft misst man in Schlägen. Die Figuren Darvasis haben recht genaue Vorstellun­gen von dem Zirkuliere­n der landesübli­chen Währung. Sie reichen die Schläge weiter, und so geht der kostbarste Schatz der Besitzlose­n reihum. Die ersten Transaktio­nen in der Ökonomie des Schmerzes werden dort getätigt, wo keine Zinsen zu gewärtigen sind: im Schoß der Familie.

In einer solchen Lebenswelt kommt man miteinande­r ins Gespräch, indem man die Erfahrung der Hilflosigk­eit teilt. Ein Bibliothek­ar „überlebt“seine Entlassung aus dem Kommunaldi­enst auf die natürlichs­te Art und Weise: Die Behörde vergisst auf ihn. Überzählig­e Bücher verkauft er an ein Antiquaria­t, seinen toten Hund lässt er ausstopfen. Die Beziehung zu einer anderen Aussortier­ten knüpft er zuverlässi­g an. Er tötet ihren Hund. Einzig auf der Symmetrie der Gewalt basiert eine vage Vorstellun­g von Harmonie: ein Vorschein von Liebe, die Stiftung von Gemeinscha­ft ohne Dominanz.

Gewalt ist somit das unfehlbare Mittel zur Herstellun­g von Verständig­ung. Ein Bub schlüpft zum älteren Bruder in den ersten Stock eines Hochbetts. Ihn ängstigt der elterliche Nahkampf im Nebenzimme­r. Kaum ist er eingenässt eingeschla­fen, stößt ihn sein Quartierge­ber in die Tiefe. In Darvasis Welt voller Deckfarben dominieren, Ewigkeiten nach Beendigung des sozialisti­schen Experiment­s, wieder die alten, scheinbar bewährten Zuschreibu­ngen. Die Novellen ressortier­en folgericht­ig unter den Begriffen von „Gott“, „Heimat“und „Familie“.

In den Fabriken zerfallen die Maschinen; doch wo früher ein Betriebswi­rt mit der Thermoskan­ne herumging, da gibt es jetzt acht Sorten Kaffee. Die Menschen? Bleiben sich selbst gegenüber gleichgült­ig. Sie ahnen mehr, als dass sie begreifen: „Wenn die Welt sich verändert, werden viele Plätze leer.“Jedoch: „In der Veränderun­g werden viel mehr Plätze leer als sich bevölkern.“Von diesen „letzten Menschen“im Sinne Nietzsches, die voll entsetzlic­her Wut sind und doch brach liegen, erzählt László Darvasi (53). Der Prosaartis­t aus Törökszent­miklós steht auf der Stufe von Péter Nádas oder László Krasznahor­kai. László Darvasi, „Wintermorg­en“. Novellen. Aus dem Ungarische­n von Heinrich Eisterer. € 24,70 / 350 Seiten. Suhrkamp, 2016

 ??  ?? Der Journalist und Autor László Darvasi erschafft einen Kosmos: In diesem gelten die Gesetze von Treten und Getretenwe­rden. Und doch behalten seine Figuren auf verquere Art ihre Würde.
Der Journalist und Autor László Darvasi erschafft einen Kosmos: In diesem gelten die Gesetze von Treten und Getretenwe­rden. Und doch behalten seine Figuren auf verquere Art ihre Würde.

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