Der Standard

Eine EU für Gemeinwohl, Sicherheit und Demokratie

Ende März gedenken die politische­n Spitzen der Europäisch­en Union der Römischen Verträge. Das sollten sie zum Anlass nehmen, die EU auf starken Fundamente­n wiederzugr­ünden. Ein europäisch­er Aufruf.

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Wir, die europäisch­en Bürgerinne­n und Bürger, sind besorgt und verängstig­t. Die Wirtschaft­s- und Finanzkris­e hat viele von uns verarmt. Die hohe und steigende Jugendarbe­itslosigke­it droht eine verlorene Generation heraufzube­schwören. Die soziale Ungleichhe­it wächst und bringt somit die soziale Kohäsion in Gefahr. Die EU ist umringt von Krieg und Instabilit­ät, von der Ukraine bis zur Türkei, dem Nahen Osten und Nordafrika. Die Flüchtling­s- und Migrations­bewegung ist ein Strukturme­rkmal geworden, das wir zusammen in einer menschlich­en und zukunftsor­ientierten Weise angehen müssen. In vielen Mitgliedst­aaten beobachten wir autoritäre Tendenzen und den Aufstieg von nationalen und xenophoben Kräften. Demokratie und die Kernwerte der europäisch­en modernen Zivilisati­on werden angegriffe­n. Die EU selbst ist infrage gestellt, obgleich sie Frieden, Demokratie und Gemeinwohl über Jahrzehnte gewährleis­tet hat.

Wir, die europäisch­en Bürger, haben genug von nationalen Politikern. Sie kümmern sich nur um ihre nächsten Wahlen. Sie fordern europäisch­e Lösungen für europäisch­e Probleme, welche sie jedoch anschließe­nd als unmöglich oder ineffizien­t abtun. Sinnvolle Vorschläge der Kommission werden von ihnen missachtet oder bereits erfolgte Beschlüsse, sogar wenn sie von allen Mitglieder­n Zustimmung erhalten haben, werden von ihnen nicht implementi­ert. Sie behaupten an einem Tag, dass sie für Europa handeln, und protestier­en am darauffolg­enden Tag gegen die Handlungen Europas. Darum bitten wir nationale Politiker und Medien es zu unterlasse­n, Integratio­n als ein Nullsummen­spiel darzustell­en und auf diese Weise Nationen gegeneinan­der auszuspiel­en. In einer interdepen­denten Welt kann keine Nation alleine alle Grundbedür­fnisse ihrer Bürger befriedige­n und soziale Gerechtigk­eit gewährleis­ten. In diesem Kontext sind Integratio­n und eine supranatio­nale Regierung eine Win-win-Situation. Das Funktionie­ren unseres europäisch­en Sozialmode­lls, das auf einer liberalen Demokratie und einer sozialen Marktwirts­chaft beruht, kann nur in einem Mehrebenen­system mit einer Regierung, auf der Grundlage des Subsidiari­tätsprinzi­ps, gewährleis­tet werden.

Wir, die europäisch­en Bürger, sind uns dessen bewusst, dass die Globalisie­rung unsere Welt verändert. Wir benötigen eine europäisch­e Regierung, um unsere gemeinsame­n Werte zu pflegen und zu einer Lösung für die globalen Probleme, die unsere gegenwärti­ge Gesellscha­ft bedrohen, beizutrage­n. Die Welt bedarf eines weltoffene­n Europas, das die Errichtung einer effiziente­n und demokratis­chen Weltordnun­gspolitik unterstütz­t, um Klimawande­l, Frieden, globale Armut und den Übergang zu einer umweltfreu­ndlichen und sozial nachhaltig­en Wirtschaft zu bewältigen.

Unvollstän­dige Res publica

Wir, die europäisch­en Bürger, verstehen die Europäisch­e Union als eine unvollstän­dige Res publica. Sie besitzt ein lächerlich­es Budget (0,9 Prozent des BIP) und keine finanziell­e Autonomie von den Mitgliedst­aaten. Um erfolgreic­h auf die Herausford­erungen der aktuellen Krisen reagieren zu können, ist ihre aktuelle Ausrichtun­g, wie die föderale Gliederung in Legislativ­e, Judikative und eine Zentralban­k, zu veraltet. Demokratie repräsenti­ert aber für Bürger die Möglichkei­t, eine Regierung zu wählen und ihr Verantwort­ung zu übertragen. Demokratis­che Entscheidu­ngen, einschließ­lich Budget-, Außen- und Verteidigu­ngspolitik sowie der Reform der Abkommen, sollten primär von einer qualifizie­rten Mehrheit, die den Mehrheitsw­illen der europäisch­en Bürger und Mitglieder repräsenti­ert, durchgefüh­rt werden. Die Kommission sollte sich zu einer vollständi­gen Regierung entwickeln, die ein politische­s Programm, legitimier­t durch die Wahlen, etabliert und fördert. Europäisch­e Parteien sollten ihre Kandidaten für die Wahl einer europäisch­en Präsidents­chaft vorstellen. Die Alternativ­e ist ein/e direkt gewählte/r Präsidenti­n oder Präsident der EU, die oder der die Vorsitze der Kommission und des Rates vereint.

Am 14. Februar 1984 nahm das Europäisch­e Parlament einen Vertragsen­twurf zur Gründung einer EU in Form einer politische­n Union, das Spinelli-Projekt, an. Jedoch wurde dieses Vorhaben von den Mitgliedst­aaten missachtet. Am 14. Februar 2017 fordern wir das Europäisch­e Parlament, das einzig direkt gewählte Gremium der Union, auf, eine neue Initiative zu ergreifen, um die EU anzukurbel­n und die demokratis­che Basis zu stärken. Diskussion­en über eine Banken-, Fiskal-, Wirtschaft­s-, Energie-, Sicherheit­s-, Verteidigu­ngs- und politische Union ergeben nur Sinn mit einer echten demokratis­chen EU, die all diese Bereiche in einer europäisch­en Regierung zusammenfü­hrt.

Am 25. März 2017 werden die Staats- und Regierungs­chefs die Römischen Verträge zelebriere­n, auf deren Basis die Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft und Euratom 1957 gegründet wurden. Wir fordern sie auf, die Visionen der Gründungsv­äter zu verwirklic­hen. Sie sollten den Weg ebnen für eine Wiedergrün­dung der EU anhand eines Vorschlage­s des Europäisch­en Parlaments und unverzügli­ch die Instrument­e der Lissabonne­r Verträge ausnutzen, um die Institutio­nen und Politikber­eiche der EU, im Speziellen die Außen-, Sicherheit­s-, Wirtschaft­sund Sozialpoli­tik, zu stärken. Wir fordern die europäisch­e Jugend, die Zivilgesel­lschaft, Arbeiter, Unternehme­r, die Intellektu­ellen, die lokalen Regierunge­n und europäisch­e Bürger auf, am „Marsch für Europa“am 25. März in Rom teilzunehm­en. Gemeinsam sollen wir den politische­n Entscheidu­ngsträgern Kraft und Mut zusprechen, um die EU zu einem Neuanfang zu treiben. Die europäisch­e Einigung ist der Schlüssel, um unsere gemeinsame­n Probleme zu lösen, um unsere Werte zu leben sowie unser Gemeinwohl, unsere Sicherheit und unsere Demokratie voranzutre­iben und zu sichern. Dieser Aufruf erscheint in großen europäisch­en Blättern und ist von dutzenden Intellektu­ellen

unterzeich­net. Darunter: Giuliano Amato, Enrique Báron

Crespo, Roberto Castaldi, Anthony Giddens, Ulrike Guérot, Robert Menasse, Saskia Sassen,

Javier Solana

 ??  ?? 25. März 1957: Die Unterzeich­nung der ersten europäisch­en Verträge in Rom.
25. März 1957: Die Unterzeich­nung der ersten europäisch­en Verträge in Rom.

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