Der Standard

Graz, der politische Wetterwink­el

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Rund fünfzig Jahre ist es her, da Teddy Podgorski in der ZiB 1 Graz zum „Wetterwink­el der österreich­ischen Politik“erklärte. Hintergrun­d war ein Umsturz in der lokalen Hochschulp­olitik, ausgelöst durch eine neue Gruppierun­g, die sich selbst als „links von rechts und rechts von links“bezeichnet­e, wegen ihres Programms aber als linksradik­al eingestuft wurde. 1965 gab es freilich bereits das „Forum Stadtpark“mit seinen später berühmt gewordenen Literaten. Und seit 1963 wurden europäisch relevante Philosophe­n, Naturwisse­nschafter und Literaten nach Graz geholt. In überfüllte­n Hörsälen erklärten sie die neuen Zeiten. Zum Unterschie­d vom damaligen erst im Erwachen begriffene­n Wien (Salzburg, Linz, Innsbruck schliefen) wirkten sich die geistigen Anstöße direkt auf die Politik aus.

Zwar fehlte auch in Graz der Straßenpro­test nicht. Mehr als einmal wurde die Innenstadt lahmgelegt. Aber im Unterschie­d zu deutschen Städten dominierte nicht der fundamenta­listische ideologisc­he Kampf, sondern der pragmatisc­he, oft kabarettis­tische Aktionismu­s.

Der „steirische herbst“war der Rahmen und tat ein Übriges. Weil die Künstler ihre Produktion­en vorwiegend in die städtische Wirklichke­it pflanzten, kam es permanent zu Provokatio­nen und Konflikten, die einerseits zum Aufstieg der FPÖ (unter dem späteren Bürgermeis­ter Alexander Götz), anderersei­ts zur Gründung einer grünen Liste (ALG) und zur Formierung einer Bürgerinit­iative gegen den Bau des Plabutsch-Tunnels führten. Die Opposition setzte den traditione­llen Parteien massiv zu.

Der SPÖ-Bürgermeis­ter Gustav Scherbaum, vehementer Verteidige­r des Tunnels, verlor die nächste Wahl und musste zurücktret­en. Die Grünen setzten sich bald darauf und für immer im Grazer Gemeindera­t fest. Die Verzahnung zwischen liberaler Kultur (inklusive der Universitä­ten) und der Politik hatte manchmal Aussetzer, aber sie verschwand nicht mehr.

Graz blieb bis heute im Wiener Verständni­s so weit entfernt, als wäre es Zagreb oder Lubljana. Der Stadt haftet etwas Exotisches an, das man sich nicht ausreichen­d erklären kann.

So auch der Ausgang der jüngsten Gemeindera­tswahlen. Sie endeten keineswegs mit einem „Rechtsruck“– nicht nur weil die KP die 20-Prozent-Marke übersprang und die FPÖ bei 16 Prozent picken blieb. Eine Koalition zwischen Volksparte­i und Freiheitli­chen ist durchaus möglich. Aber der in letzter Zeit liberaler agierende Bürgermeis­ter Siegfried Nagl verlangt von der FPÖ, dass die ein „Integratio­nspaket“mitträgt. Umgekehrt ist eine Ampelkoali­tion mit Grünen und Neos wegen des umstritten­en Baus eines Murkraftwe­rks schwierig. Nagl praktizier­t daher, was der Bundespoli­tik bisher fremd ist: Er arbeitet mit Bereichsko­alitionen. Will heißen: wechselnde Mehrheiten, die sogar eine partielle Kooperatio­n mit der KP möglich machen.

Graz ist nicht nur ein Wetterwink­el der Politik, es ist im Sinne eines Ernst-Jandl-Gedichts vor allem „lechts von rinks“und (Copyright Peter Handke) eine „verkehrte Welt“. gerfried.sperl@derStandar­d.at pderStanda­rd. at/Sperl

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