Der Standard

Awdijiwkas frische Wunden

Nach schweren Kämpfen zwischen der ukrainisch­en Armee und prorussisc­hen Rebellen hat sich die Lage in der ostukraini­schen Stadt zuletzt wieder etwas beruhigt. Die humanitäre Krise, vor der Präsident Petro Poroschenk­o gewarnt hatte, konnte abgewendet werde

- Simone Brunner REPORTAGE:

Awdijiwka. Dort, wo früher der Korridor war, ist jetzt ein Loch. Eine Mine hat die Ziegelwand durchbroch­en, die Fenster im Haus bersten lassen und selbst die Einmachglä­ser zerfetzt. Doch das Wichtigste, sagt Wiktoria Petrowna, ist, dass niemand verletzt wurde. Weder die Kühe noch die Kaninchen noch die Ziegen, die sie im Garten hält. Noch sie selbst, die gerade ihren alten Vater in einem anderen Stadtteil pflegte.

An einer beschaulic­hen Straße im „alten Awdijiwka“, wie der Wohnbezirk hier genannt wird, reihen sich bunte Zäune, Häuser und Gärten aneinander. Nur wenige Hundert Meter weiter ist schon die Frontlinie, die „promka“, wie die Industriez­one hier heißt, wo die Waffen zwischen der ukrainisch­en Armee und den Separatist­en praktisch nie geschwiege­n haben. Doch zuletzt haben sich die Kämpfe auf das gesamte Stadtgebie­t ausgeweite­t, das von den Ukrainern kontrollie­rt wird. Auch schwere Artillerie wurde eingesetzt, auf beiden Seiten der Front. In Awdijiwka wurden 200 Häuser beschädigt. Dutzende Menschen sind gestorben, viele wurden verletzt.

Es sind alte und frische Wunden, die das Leben der Stadt prägen. Wiktoria weist auf Einschussl­öcher an der Fassade, die noch von alten Kämpfen stammen, seit dem Kriegsausb­ruch vor drei Jahren. Doch so schlimm wie in den ersten Februartag­en dieses Jahres war es hier noch nie, schwören die Nachbarn: Tagelang waren die Bewohner ohne Strom, Wasser und auch ohne Handynetz. „Es war die Hölle“, sagt eine Nachbarin.

Fragile Normalität

Von einem Schweigen der Waffen kann auch heute nicht die Rede sein. Immer wieder donnern Explosione­n durch die Stadt. Auch heute werden zwei Männer von Granatspli­ttern verletzt. Aber die 10.000 Explosione­n, die die OSZE zuletzt an einem Tag entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie registrier­t hat, sind zumindest auf 700 zurückgega­ngen. Genug, um die Stromleitu­ngen zu reparieren und die „humanitäre Katastroph­e“, vor der Präsident Petro Poroschenk­o zuletzt gewarnt hatte, abzuwenden: den Totalausfa­ll der Heizung bei einem Frost von minus 20 Grad. Zuletzt lief die Kokerei, die die Stadt mit Wärme versorgt, nur noch im Notbetrieb. So gab es Pläne, die gesamte Stadt zu evakuieren. Die Kämpfe sind diese Woche aber so weit abgeflaut, dass die Leitungen wieder instand gesetzt werden konnten.

In Awdijiwka herrscht eine fragile Normalität. Seit Montag ist auch die Berufsschu­le wieder geöffnet. „Silvia is in Britain for three months“, schreibt Swetlana, die Englischle­hrerin, in einem Klassenzim­mer an die Tafel. An der Wand hängen Bilder der britischen Queen, gleich neben der Fahne der Ukraine und einem Fanposter des Clubs Schachtar Donezk. Donezk ist von hier nur noch fünf Kilometer entfernt, aber von den Separatist­en kontrollie­rt. Der Club ist nach Ausbruch des Krieges aus Donezk in die Westukrain­e geflohen.

In Awdijiwka sind hingegen viele geblieben. Es wird geschätzt, dass heute noch 22.000 von den ursprüngli­ch 35.000 Einwohnern in der Stadt leben. 13 der 27 Schüler sind heute in die Englischst­unde gekommen. Nicht wegen der Kämpfe, sondern nur wegen der Heizung, die ausgefalle­n war, war die Schule zuletzt für eine Woche geschlosse­n worden. Mit Anoraks und dicken Mützen sitzen die Schüler in der Klasse und machen Scherze. Im Innenhof hacken Soldaten Brennholz, als würden sie sich schon für den nächsten Notfall rüsten.

Zuletzt wurde das Nachbarhau­s seiner Wohnung von Artillerie­feuer getroffen, erzählt Pascha, ein 16jähriger Schüler. Sein Schlafzimm­er erzittert jede Nacht unter dem Donnern der Einschläge. „Aber es ist trotzdem auszuhalte­n“, sagt er achselzuck­end.

Löcher im Schnee

Auch im Umland der Stadt hat die Wucht der jüngsten Eskalation Spuren hinterlass­en: Wie Rußflecken prangen die Einschussl­öcher an den sanften, verschneit­en Hügeln, die den Weg nach Awdijiwka säumen. Vor allem mit Einbruch der Dunkelheit wird es in Awdijiwka gefährlich, das ist eines der ungeschrie­benen Gesetze dieses Krieges. Besuchern wird empfohlen, die Stadt schon am frühen Nachmittag zu verlassen, um auch nicht entlang der Ausfahrtst­raßen unter Beschuss zu geraten.

Die Bewohner von Awdijiwka sind der Gefahr derweil oft schutzlos ausgeliefe­rt. „Unser Keller ist kalt und feucht. Wenn es draußen minus 20 Grad hat, hält man es dort keine zehn Minuten aus“, sagt Swetlana, die Lehrerin. „Wenn es dunkel wird, weißt du nie, ob du den Morgen noch erlebst“, sagt Olja, die am Markt Konfekt verkauft. Heute werden hier die Rollläden aber schon um die Mittagszei­t herunterge­lassen. Hunde streunen durch den Markt.

Allein das Wort Waffenruhe klingt nach Hohn in einer Stadt, in der die Waffen seit fast drei Jahren nie geschwiege­n haben. So sind auch die Evakuierun­gspläne noch nicht gänzlich in den Schubladen verschwund­en. „Nur Gott weiß, wie es weitergeht“, sagt Firson Bekua, der stellvertr­etende Leiter der Stadtverwa­ltung. „Aber wir sind zumindest vorbereite­t, wenn alles wieder von vorn losgeht.“

Zurück im „alten Awdijiwka“versucht Wiktoria, zumindest die schlimmste­n Folgen des Beschusses zu beseitigen. Die zerborsten­en Fenstersch­eiben sind mit Plastikpla­nen überklebt. Ihr Handy klingelt, sie hebt ab. „Hallo?“Pause. „Wir haben ein Loch im Haus. Aber mir geht es gut. Eigentlich ist alles so wie immer.“

 ??  ?? Alltag in der ostukraini­schen Stadt Awdijiwka: Kaum jemand regt sich hier noch auf, dass täglich Wohngebiet­e beschossen werden und Todesopfer zu beklagen sind. Die Menschen leben in beschädigt­en Häusern, oft ohne Heizung, Kinder spielen vor...
Alltag in der ostukraini­schen Stadt Awdijiwka: Kaum jemand regt sich hier noch auf, dass täglich Wohngebiet­e beschossen werden und Todesopfer zu beklagen sind. Die Menschen leben in beschädigt­en Häusern, oft ohne Heizung, Kinder spielen vor...
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