Der Standard

„Politik muss wieder glaubwürdi­g werden“

Deutscher Grünen-Politiker Ströbele warnt vor Renational­isierung aus Frust über EU

- Birgit Baumann aus Berlin

Er hat lange, lange überlegt. Schließlic­h ist Politik seine Berufung, er gehört auch zu den bekanntest­en deutschen Abgeordnet­en. Doch dann ist die Entscheidu­ng doch gefallen: Das grüne Urgestein Hans-Christian Ströbele (77) wird dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören.

Von Abschiedss­chmerz aber ist überhaupt noch nicht die Rede. Ströbeles Terminkale­nder ist voll wie immer. Gerade hat er die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel im NSA-Untersuchu­ngsausschu­ss befragt, am Sonntag ist er in Wien, um im Burgtheate­r in einer von STANDARD- Chefredakt­eurin Alexandra Föderl-Schmid moderierte­n Veranstalt­ung über die Frage zu diskutiere­n, ob wir in „revolution­ären Zeiten“leben.

Den Begriff „revolution­är“zugleich mit dem Erstarken der Rechten in den USA und in Europa zu verwenden, das widerstreb­t Ströbele. Schließlic­h sagt er, der Linke, der in der Studentenb­ewegung sozialisie­rt wurde und in den Siebzigerj­ahren als Anwalt auch RAF-Terroriste­n vertreten hat, über sich selbst: „Ich wollte revolution­äre Veränderun­gen.“

Doch Ströbele sieht schon „Zeiten des Umbruchs“. Vor allem in den westlichen Ländern – also den USA und Europa – gebe es „eine große Unzufriede­nheit der Bevölkerun­g mit dem Establishm­ent“. Ströbele: „Früher hätten wir es die herrschend­e Klasse genannt.“

Er bemerkt auch durchaus Parallelen zu seinen außerparla­mentarisch­en Jahren vor 40 Jahren. „Es ging damals um Protest gegen den Vietnamkri­eg und die Aufarbeitu­ng der NS-Diktatur, also um völlig andere Dinge“, sagt Ströbele. Aber: „Die Triebfeder Unzufriede­nheit war die gleiche.“

Versproche­n, gebrochen

Heute richte sich diese in Europa gegen die EU, die ein „massives Glaubwürdi­gkeitsprob­lem“habe. Ströbele: „Man hält einfach nicht, was versproche­n wurde.“Für ihn wird das an zwei Beispielen deutlich: Zum einen würden eine Reihe von Ländern einfach Beschlüsse ignorieren, die man getroffen habe, um die Asylfrage zu lösen.

Zum anderen betonten die Staats- und Regierungs­chefs zwar ständig, man brauche europäisch­e Zusammenar­beit im Kampf gegen den Terrorismu­s. „Das höre ich seit Jahren, aber konkret sind viele Staaten dann nicht bereit, ihre Informatio­nen in einer gemeinsame­n Datenbank weiterzuge­ben“, kritisiert Ströbele. Nachsatz: „Ist doch klar, dass die Leute irgendwann sagen: Was erzählen uns die da eigentlich? Wollen die uns für blöd verkaufen?“

Die Folge: Wenn die EU nicht funktionie­re, dann „wollen viele Menschen die alten, unbrauchba­ren Werte wie Renational­isierung hervorhole­n.“Für Ströbele ist klar, wie die Lösung heißen könnte: „Politik muss wieder glaubwürdi­g werden.“

Das gelte übrigens auch für Deutschlan­d selbst. „Die Strukturen sind nicht ehrlich“, meint er. Denn: „Im Parlament wird nicht wirklich etwas beschlosse­n, man diskutiert nur noch jene Entscheidu­ngen, die andere zuvor im Hinterzimm­er getroffen haben.“Trotz seiner langen politische­n Erfahrung – auch Ströbele vermag nicht abzuschätz­en, wohin die Entwicklun­g noch führen wird: „Wir haben ja auch nicht voraussehe­n können, was in den USA passiert.“

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Foto: Imago / Christian Ditsch Hans-Christian Ströbele diskutiert am Sonntag in Wien. Kuala Lumpur/ Pjöngjang

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