Der Standard

Schön weiß ist das Weiß

Birgit Birnbacher­s kunstvolle­r Debütroman „Wir ohne Wal“kreist um einen blinden Fleck und markiert sehr präzis soziale Topografie­n.

- Gerhard Melzer

Zwei Ahnherren hat das Abendland, das später zum „Westen“wurde: Prometheus und Jesus. Der eine stahl den Göttern das Feuer, um es den Menschen zu bringen, und wurde so zur Ikone aller Rebellion. Der andere befolgte Gottes Willen, ließ sich aus Menschenli­ebe ans Kreuz nageln und wurde so zur Ikone allen Erduldens. Ihre Dynamik, Schönheit, ja: Erhabenhei­t bezog die westliche Zivilisati­on daraus, dass sie sich nie entscheide­n konnte, welchem ihrer beiden Ahnherren sie folgen sollte: demjenigen, der sie anstachelt­e, ihren Erfinderge­ist aufs Kräftigste anzuspanne­n und Werkzeuge zu erfinden, mit deren Hilfe es ihr gelang, sich mehr und mehr gegens Schicksal und seine Schläge zu immunisier­en? Oder demjenigen, der predigte, dass der Mensch keine größere Sünde begehen könne, als seinen Eigenkräft­en zu vertrauen, und sich stattdesse­n der Gnade Gottes anvertraue­n solle?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, der hohle, zum Platzen geblähte Egoismus unserer Tage sei das Ergebnis davon, dass in diesem Wettstreit die Prometheis­chen seit den Tagen der Aufklärung einen Sieg nach dem anderen einfahren, während die Jesus-Anhänger bloß rührende Rückzugsge­fechte führen. In Zeiten, in denen der Mensch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt auftrumpfe­nder beweist, was er alles vermag – Zum Mond fliegen! Bald schon zum Mars! Kinderlähm­ung besiegt! Bald auch den Krebs! Warum nicht gleich die Sterblichk­eit? – , kämpft jede Lehre, die sagt: „Mensch, was bist du außer einem großen Nichts!“, auf verlorenge­hendem Posten. Bei Aischylos wird Prometheus für seinen Feuerdiebs­tahl an den Kaukasus gekettet. Und selbstvers­tändlich hebt der sogleich an, seine „schmählich­e Fess’lung“zu verfluchen. Doch bald schon mischen sich leisere Töne ins Wutgeschäu­m, erkennt er, dass er dieses sein Verhängnis tragen muss – „so leicht“er kann. Und wenn Hermes ihm am Schluss ins Gesicht sagt: „Du wärest unerträgli­ch, wenn du glücklich wärst“, fällt dem Titanen nichts mehr außer „Weh mir!“ein.

Lässt sich aus diesem „Weh mir!“etwas lernen, obgleich kein Mensch, keine Gesellscha­ft in der Geschichte rückwärtsw­andern können? Ich denke, ja: Wenn der prometheis­che Geist des Sich-wichtig-Nehmens zur durchgängi­gen Alltagshal­tung verkommt, sind unerträgli­che Zeitgenoss­en das Resultat. Kindische Kleingeist­er, die Tag und Nacht die Reklamatio­nsstelle anrufen, um sich zu beschweren, was ihnen das Leben wieder Unzumutbar­es vor die Füße geworfen hat. Verzogene Narzissten, deren Verzogenhe­it noch befeuert wird, wenn am anderen Ende der Leitung nur noch Rechtsanwä­lte und Sozialarbe­iter sitzen, die sie darin bestärken, sich vom Schicksal bloß nichts bieten zu lassen. Auch ich möchte nicht, dass es kaltschnäu­zige Hermesse sind, die uns in unseren Verzweiflu­ngszuständ­en antworten. Aber wie schön wäre es, eine Stimme zu vernehmen, die uns sagen würde: „Herr, gib mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenhe­it, das Unabänderl­iche zu ertragen und die Weisheit, zwischen diesen beiden Dingen die rechte Unterschei­dung zu treffen.“

F. v. Bünau, H. Hückstädt (Hg.), „95 Anschläge. Thesen für die Zukunft“. € 20,60 / 285 Seiten. S.-Fischer-Verlag 2017

Sie werden gerade erwachsen und hätten eine Zukunft. Die Geschichte­n, die Birgit Birnbacher in ihrem Debütroman Wir ohne Wal erzählt, handeln vom Leben junger Menschen. In allen diesen Geschichte­n steckt der Keim eines Anfangs, der nie wirklich zur Blüte gelangt. Das Potenzial der Zukunft erscheint am Horizont, will aber keine fassbare Gestalt annehmen. Und manchmal ist da eine Gestalt, die den Horizont nicht erhellt, sondern verstellt.

Dass Birnbacher ein Bouquet scheinbar autonomer Geschichte­n versammelt, kollidiert nur auf den ersten Blick mit dem Gattungsan­spruch des Romans: Nach und nach erweist sich, dass diese Geschichte­n eine genaue soziale Topografie markieren. In ihrem Zentrum stehen desorienti­erte Schüler, antriebslo­se oder gescheiter­te Studenten, Künstler am Rand des Prekariats, psychisch und physisch Versehrte, Behinderte, Ausgegrenz­te, und sie alle bewegen sich in einem „perspektiv­ischen Niemandsla­nd“, angezogen von einer „magnetisch­en Leere“.

Es gehört zu den Qualitäten des Romans, dass Birnbacher die Innenräume dieser Orientieru­ngslosigke­it ausleuchte­t und so Verständni­s weckt für das zuweilen befremdlic­he Verhalten ihrer Akteure. Das Befremden macht einer nüchternen, taghellen Empathie Platz, die nicht auf Schuldzusc­hreibungen aus ist, sondern auf Einsichten und Erkenntnis­se. Dabei kommt der Kompositio­n des Romans entscheide­nde Bedeutung zu. Die Geschichte­n driften nicht auseinande­r, sondern sind auf kunstvolle Weise miteinande­r verschränk­t.

Diese Verschränk­ung bringt mit sich, dass manche Ereignisse, Situatione­n und Figuren aus verschiede­nen Perspektiv­en betrachtet werden, während andere bloß gemeinsam haben, dass sie um den gleichen blinden Fleck kreisen. Das eine wie das andere wirkt vorschnell­en Einschätzu­ngen und Beurteilun­gen entgegen, etabliert einen schwebende­n Eigensinn, der das Gewebe der Geschichte­n durchdring­t und festigt.

Markantest­er Ausdruck dieses Eigensinns ist der Wal, auf den schon der Titel des Romans verweist. Es ist nicht das reale, tonnenschw­ere Tier, das da herbeiziti­ert wird, sondern ein stilisiert­es Abbild des Wals, eine weiße Plane, die luftig und leicht über dem Schauplatz des Geschehens hängt. Die jungen Künstlerin­nen, die sich das Abbild ausgedacht haben, bestehen darauf, dass ihre Installati­on „mehr“sei als ein Wal. Und in der Tat tritt zutage, dass das Kunsttier eine Projektion­sfläche ist, der – je nach Blickwinke­l – unterschie­dliche Bedeutunge­n eingeschri­eben werden.

Für das bewegungsu­nfähige Opfer eines Brandunfal­ls ist der Wal das einzige Stück Welt, das im Ausschnitt des Fensters erscheint, während er einer Selbstmörd­erin den letzten Impuls gibt, ein für alle Mal mit der Welt zu brechen: „Da ist noch dieses Weiss über mir, und es tröstet mich. Ich laufe schneller, sodass sich das Weiss von oben auch in mir verteilt. Sich über den Rest Angst legt, der längst taub ist, aber noch irgendwo kauert.“

Dass der fliegende Wal zum mehrdeutig­en Zeichen wird, ent- spricht der Intention der Künstlerin­nen. Was Birnbacher einer von ihnen in den Mund legt, mag in einem auch die Poetik der Autorin kennzeichn­en. Sie halte das umstandslo­se Benennen von Dingen „für einen Irrtum“, heißt es da, ein Ding sei für sie immer schon „mehr Wort gewesen als ein Wort“. Das „Unkommenti­erte“sei ihr lieber, „der Ausdruck durch etwas anderes. Eine Installati­on zum Beispiel, weiss und hoch oben ...“

Der Wal gerät auf diese Weise zum Exempel eines poetischen Sprechens, dem der Roman Birnbacher­s erkennbar verpflicht­et ist. Was der Text zu erzählen hat, erzählt er auf Umwegen. Dazu passt die verschränk­te Ordnung der Geschichte­n, die Lücken und Leerstelle­n enthält, zugleich aber ausreichen­d Hinweise auf deren verborgene­n Sinn liefert. Das kann Irritation­en bewirken, wie alle Kunst, die nicht auf rasches, friktionsf­reies Einverstän­dnis zusteuert. Ratlos kommentier­t der Vater die Kunstinsta­llation seiner Tochter: „das Weiss ist schön weiss.“

Anderersei­ts kann derlei irritieren­de Offenheit aber auch Energie freisetzen, die aufs Leben überspring­t und ihm unverhofft­en Glanz verleiht. Es ist der Glanz poetischer Verheissun­g, die für Augenblick­e jede Zukunft möglich macht. Birnbacher fasst diese Erfahrung ins Bild eines nächtliche­n Spaziergan­gs, bei dem eine junge Frau und ein junger Mann die Beschränku­ngen des Alltags überwinden und zu einem exemplaris­chen Paar werden: „Später, als wir auf den Gehsteig hinausstol­perten und aus der Ferne den von unten beleuchtet­en Wal anschauten, begann es zu schneien. Du hast die Hand ausgestrec­kt, als wären kein Fluss, keine paar tausend Meter, keine Stadt zwischen dir und dem Wal, als wäre er eine fallende Schneefloc­ke, zum Greifen nah vor unseren Gesichtern. So standen wir da in der Kälte, aber uns war heiß, deine rechte Hand in meiner, während deine linke den Wal von der Felswand pflückte.“

 ?? Foto: APA / Elisabeth Leberbauer.org ?? Schwebende­r Eigensinn, der das Gewebe der Geschichte durchdring­t: Birgit Birnbacher.
Foto: APA / Elisabeth Leberbauer.org Schwebende­r Eigensinn, der das Gewebe der Geschichte durchdring­t: Birgit Birnbacher.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria