Der Standard

„Die Jugend hat Furcht vor dem Abstieg“

Nichts an ihm ist richtig, nichts kann er gut genug: der Lehrling. Was für die Jungen ganz falsch läuft und welche großen Reformen dringend notwendig sind: Jugendfors­cher Bernhard Heinzlmaie­r appelliert eindringli­ch.

- INTERVIEW: Karin Bauer

Standard: Aufwertung der Lehre gegen den Facharbeit­ermangel, mehr Durchlässi­gkeit des tertiären Bildungssy­stems für lebensbegl­eitendes Lernen – die Pläne sind groß. Geht es für die Jungen mit der Lehre bergauf, lässt der Druck zum „Aufstieg“nach? Heinzlmaie­r: Aber überhaupt nicht. Karl Marx hat den Begriff der Verdinglic­hung geprägt. Der Lehrling der Gegenwart ist also gezwungen, ein kalkuliere­ndes Wesen zu sein, mehr als früher immer bedacht darauf, so zu sein, dass er dem Produktion­sprozess möglichst unauffälli­g dienlich sein kann. Der Lehrling ist nicht mehr als Mensch relevant, sondern lediglich als anonyme Persona, die eine standardis­ierte Aufgabe zu erfüllen hat. Erst am Abend, nach der Arbeit, darf er wieder aus seiner Rolle fallen. Der Druck, anders sein zu müssen, als man tatsächlic­h ist, ist besonders in einer Abstiegsge­sellschaft, in der vor allem die Jungen abstiegsge­fährdet sind, riesengroß. Wir wissen ja, dass die Pensionist­en ihre soziale Position in der Regel halten können, während die Jungen häufig hinter die Statusposi­tion ihrer Eltern zurückfall­en. Oliver Nachtwey entwickelt in seinem Buch Die Abstiegsge­sellschaft die „Rolltreppe­nmetapher“.

Standard: Was bedeutet diese konkret? Heinzlmaie­r: Sie bedeutet, dass man nur durch das permanente Anlaufen gegen die Fahrtricht­ung der Rolltreppe seinen Platz halten kann. Wer nur kurz stehenblei­bt, fährt ungebremst in die Tiefe. Auf Lehrlinge umgelegt: Wer nicht jeden Tag in Berufsschu­le und am Arbeitspla­tz gegen die Drift nach unten ankämpft, geht unter, was so viel heißt, als dass er aus der regulären Lehre herauskipp­t und in der überbetrie­blichen Lehre landet. Und wer dort ankommt, ist innerhalb der Lehrlingsh­ierarchie, marxistisc­h gesprochen, im „Lumpenprol­etariat“angekommen. Und damit sind wir beim Thema der Furcht. Die Jugend der Gegenwart hat Furcht vor dem Abstieg, vor allem der Lehrling, und diese ist berechtigt, weil er eine der schwächere­n Positionen in der Bildungshi­erarchie besetzt. Sie gründet darauf, übersehen, vergessen und irgendwann einmal aussortier­t zu werden.

Standard: Bei niedrigste­r Qualifikat­ion – da soll ja die Ausbildung­spflicht helfen ... Heinzlmaie­r: Ich bin kein Freund von Pflichten und Verpflicht­ungen, vor allem deshalb, weil sie primär immer den sozial und kulturell Schwachen, den relativ Machtlosen auferlegt werden. Während man für die Eliten die Welt deregulier­t, (über)reguliert man das Leben der Prekären und Abgekoppel­ten. Übertribun­alisierung stimuliert Passivität oder Widerstand. Es ist davon auszugehen, dass die unteren Schichten diese neue Pflicht über sich ergehen lassen, um dann nach dem 18. Lebensjahr in die Arbeitslos­igkeit und Sozialhilf­e zurückzuke­hren. Dies hängt wohl damit zusammen, dass Automatisi­erung und Digitalisi­erung der Produktion nicht adäquat kompensier­t werden können. Die neuen Arbeitsplä­tze, die für die Unterschic­hten und unteren Mittelschi­chten entstehen, werden überwiegen­d Dienstbote­njobs sein, wie das Ausfahren von Speisen für eines der unzähligen Lieferserv­ices. Hier zeigt sich ein Phänomen, das wir aus dem Silicon Valley kennen. Die unteren 30 Prozent der Gesellscha­ft werden nach und nach in Dienstbote­n für die Oberschich­t verwandelt. Das ist das hässliche Gesicht der zunehmend unerträgli­ch weit gespreizte­n Einkommens- und Vermögenss­truktur. Bildung ist heute keine hinreichen­de Ressource mehr, um in eine stabile Position am Arbeitsmar­kt zu kommen und Anerkennun­g zu erreichen. Schon höhere Bildungsab­schlüsse sind dafür keine Garantie mehr, niedrige, wie Lehrabschü­sse, schon gar nicht. Wichtiger denn je ist das soziale und kulturelle Kapital des Herkunftsm­ilieus – man braucht Beziehunge­n und adäquate Umgangsfor­men. Durch die Ausbildung­spflicht werden diese nicht vermittelt. Der Mangel an sozialem und kulturelle­m Kapital ist aber der Hauptgrund für das Scheitern der bildungsfe­rnen Schichten am Arbeitsmar­kt.

Standard: Was ist zu tun, wo ist anzusetzen? Heinzlmaie­r: Wichtig wäre, die Reform der Berufsschu­lausbildun­g. Zuerst muss die Lehrausbil­dung um mindestens ein Jahr verlängert werden. Dies ist deshalb notwendig, weil es vielen Jugendlich­en im dualen System vor allem an sogenannte­n Soft Skills fehlt, d. h. es sind vor allem Sozialisat­ions- und Habitusdef­izite, die sie am Fortkommen hindern. Um die Defizite der familialen Sozialisat­ion auszugleic­hen, muss eine Bildung erfolgen, die über die rein fachbezoge­ne Ausbildung hinausgeht und die vor allem in der Vermittlun­g kulturelle­r Werte und sozialer Handlungsk­ompetenzen besteht. Dafür müssen in der Berufsschu­le Kurse eingericht­et werden, in denen die Jugendlich­en die

Umgangsfor­men der Mittelklas­sen lernen sowie deren Kompetenze­n im sprachlich­en und schriftlic­hen Ausdruck, generell Lebensstil­kompetenz. Wenn wir nur die fachlichen Qualifikat­ionen im Auge haben, werden die Jugendlich­en der unteren Sozialschi­chten niemals konkurrenz­fähig im Wettbewerb mit den Kindern aus den Mittelschi­chten werden.

Standard: Sehen Sie nur wirkungsoh­nmächtige Maßnahmen vonseiten der Politik? Heinzlmaie­r: Es ist fasziniere­nd, dass der Politik in erster Linie ordnungspo­litische Maßnahmen einfallen, wenn es um die Lösung von Bildungs- und Arbeitsmar­ktprobleme­n geht. Man will die jungen Leute mit Druck in die richtige Richtung lenken und vergisst dabei, dass man Menschen nur bewegen kann, wenn man ihnen Zuversicht und Selbstvert­rauen gibt. Einen Menschen, der nichts mehr zu verlieren oder kaum etwas zu gewinnen hat, wird man auch nicht mit Druck ins Berufssyst­em integriere­n können. Er wird alles über sich ergehen lassen und am Ende wieder in die Passivität zurückfall­en. Es geht grundsätzl­ich um Anerkennun­g für das untere Drittel der Gesellscha­ft. Auch die Lehrlinge sind Menschen, die nicht nur „hergericht­et“werden wollen. Sie können auch den legitimen Anspruch erheben, die Welt, die sie umgibt, in ihrem Sinn herzuricht­en. Und auch das sollen sie in ihrer Ausbildung lernen und daneben auch dazu ermutigt werden. Das sind Fragen der Menschenwü­rde. Heinzlmaie­r: pro bedingungs­loses Grundeinko­mmen.

Standard: „Oben“gegen „unten“und umgekehrt? Heinzlmaie­r: Der bildungsfe­rne Mensch ist zu einem Objekt einer aggressive­n Aufklä- rung geworden, dem permanent signalisie­rt wird, dass so gut wie nichts an ihm richtig ist. Wer dermaßen mit Menschen umgeht, darf sich nicht wundern, wenn diese einen Elitenhass ausprägen und genau das Gegenteil von dem machen, was man von ihnen verlangt.

Standard: Welche bildungspo­litische Unterstütz­ung ist also vonnöten? Heinzlmaie­r: Wir brauchen dringend einen Ausbau der Bildungsin­stitutione­n für das untere, prekäre bis abgekoppel­te Drittel der Gesellscha­ft. Wir brauchen den Ausbau des staatliche­n Sektors im Bereich des Gesundheit­swesens, der sozialen Dienste, der ökologisch­en Sanierung der Natur. Dieser Sektor ist in Österreich zu klein. Er könnte einerseits Arbeitskrä­fte aufnehmen, die in der produktive­n Wirtschaft nicht mehr gebraucht werden, anderersei­ts könnte durch gemeinscha­ftliche Arbeit das gesellscha­ftliche Klima verbessert werden, wodurch Passivität und Abstiegsän­gste zurückgedr­ängt würden. Wir brauchen Ausbildung in breiten Grund- und Flächenber­ufen mit anschließe­nder Spezialisi­erung, um so später die Beweglichk­eit der Lehrlinge am Arbeitsmar­kt zu erhöhen. Es ist Unsinn, heute noch jemanden zum Friseur auszubilde­n. Zeitgemäße­r wäre es, einen Stylingexp­erten auszubilde­n, der über eine umfassende Qualifikat­ion im Feld der Bodymodifi­kation – vom Piercing bis zur Frisur – verfügt. Und hört endlich auf, die Lehre immer nur anhand von Spitzenlei­stungen zu bewerten. Es ist schön, wenn Österreich Europa- und Weltmeiste­r in Handwerksb­erufen hervorbrin­gt. Leider sagt das über die Qualität und Zukunftsfä­higkeit der Lehre in ihrer gesamten Breite überhaupt nichts aus.

BERNHARD HEINZLMAIE­R ist seit über zwei Jahrzehnte­n in der Jugendfors­chung tätig. Er ist Mitbegründ­er des Instituts für Jugendkult­urforschun­g und leitet das Marktforsc­hungsunter­nehmen tfactory.

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